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Armenien: Kein Vertrauen mehr in Gorbatschow

Eriwan (taz) - Jeder in dieser Gegend in Eriwan weiß, wo die Kaputikian, die Volks- und Nationaldichterin Armeniens, wohnt. Neben dem etwas heruntergekommenen Kommunengebäude liegt die armenische Akademie der Wissenschaften, auf der anderen Straßenseite ist der Sitz des Zentralkomitees. Eine weißhaarige alte Dame empfängt uns, umgeben von einer Schar schwarzgelockterr, kulleräugiger Enkelkinder. An der Wand ein Gemälde vom Berg Ararat, dem Wahrzeichen der Armenier. Gleichzeitig ist es eine Erinnerung an ihre verlorene Heimat in der Türkei. Dazu ein Bild von dem Gekreuzigten und ein Foto des General Andranik, Symbol für die bürgerliche Republik Armenien von 1918 bis 1920; in vorgorbatschowianischer Zeit war jedes Bekenntnis zu diesem „Konterrevolutionär“ streng verboten, jetzt wird er von jungen Armeniern als Sticker an der Brust getragen.

Kaputikian ist Parteimitglied und war Delegierte bei der 19.außerordentlichen Parteikonferenz im Juni in Moskau. Sie hat im Februar 1988 nach den ersten Streiks in Karabach, bei denen der Anschluß an Armenien verlangt wurde, einen Brief an Gorbatschow geschrieben und war daraufhin am 25.2.gemeinsam mit dem Literaten Zori Balayan zu einem einstündigen Gespräch eingeladen worden.

Interessiert und erstaunlich informiert habe sich Gorbatschow gezeigt, über dieses seit 1921 zu Aserbeidjan gehörige Gebiet, in dem trotz aserbeidjanischer Ansiedlungen immer noch 80 Prozent der Bevölkerung sich als Armenier bezeichnen. Und Gorbatschow habe seinen Willen an einer Lösung bekundet, gleichzeitig aber darauf hingewiesen, daß es keine schnelle sein könne.

Und tatsächlich sind seither einige Verbesserungen eingetreten. Reisen von Armeniern nach Karabach und umgekehrt sind seit 30 Jahren wieder möglich, armenisches Fernsehen und Radio kann jetzt dort empfangen werden. Lehrer aus Karabach kommen nach Armenien, um sich in armenischer Sprache, Geschichte und Kultur weiterzubilden, jahrzehntelang war armenische Geschichte als Unterrichtsgegenstand verboten. Jetzt können Firmen und die armenische Regierung in Karabach investieren. Die Zentralregierung hat der aserbeidjanischen Regierung 400 Millionen Rubel zur Verbesserung der Situation in Karabach gegeben.

Dann, am 28./29. Februar, kam jedoch das Massaker von Sumgait, bei dem nach offiziellen Angaben 36 Armenier von Aserbeidjanern ermordet wurden. Tief in die Psyche der Armenier hat es gewirkt, das Trauma des Völkermords von 1915 ist lebendig und verwandelt das tiefe Mißtrauen gegenüber den moslemischen Aserbeidjanern bei vielen in Haß.

Sumgait hat die Bewegung verändert: statt von der Perestroika wird jetzt vom armenischen Volk geredet. Enttäuschung über die mangelnden Informationen über das Massaker durch die Massenmedien, die außergewöhnlich milde Verurteilung des ersten vor Gericht stehenden Täters durch aserbeidjanische Richter (auf Druck der Armenier ist der Prozeß jetzt nach Rußland verlegt worden), die Verwendung der ersten drei Millionen Rubel (von den 400 Millionen, die für Karabach gegeben wurden) für die Ansiedlung aserbeidjanischer Flüchtlinge in Karabach - all das verbittert und radikalisiert die Menschen, die mit zahlreichen Demonstrationen, Versammlungen und Streiks den sofortigen Anschluß von Karabach an Armenien von der Moskauer Zentralregierung fordern. Bei den ersten Demonstrationen sind Plakate mit dem Bild Gorbatschows hochgetragen worden, jetzt sind sie verschwunden. Silva Kaputikian geht nur noch selten auf Versammlungen, die ihr zu radikal geworden sind. Streiks lehnt sie als Mittel des Kampfes um Karabach ab. Sie hat Angst um die Perestroika.

Zwei Tage später sehen wir Silva Kaputikian als Volksrednerin wieder. Es ist das Fest in Musa Ler, einem Dorf in der Nähe Eriwans. Hier wohnen die Nachkommen der 5.000 überlebenden Armenier, die vor dem Genozid der Türkei 1915 auf den an der Küste gelegenen Berg Musa Dagh flüchteten und sich dort verteidigten, bis sie ein französisches Kriegsschiff auflas. Franz Werfel hat ihnen mit dem Buch „Vierzig Tage des Musa Dagh“ ein eindrucksvolles Denkmal gesetzt (und deshalb sind Österreicher in Armenien sehr beliebt).

Es ist ein riesiges Volksfest, ein den Armeniern heiliges Fest, denn hier wird das Überleben des Volkes gefeiert. Verschiedene Redner lösen einander in leidenschaftlichen Plädoyers für Karabach ab. Silva Kaputikian spricht sich für Vertrauen in die neue armenische Parteiführung aus und verliest ihr Gedicht über Pappeln in Karabach. Stundenlang stehen auch hier Tausende gebannt in der heißen Sonne, immer wieder recken sie den Arm mit geballter Faust in die Höhe, „Karabach“, „Arzach“ (alter armenischer Name für Karabach) und „Freiheit“ brüllend.

Das Fest ähnelt den täglichen, abendlichen Versammlungen vor dem großen Platz bei der Oper inEriwan. Die Menschen suchen diesen Ort der Begegnung, des Diskutierens, der Information. Fotos werden herumgereicht, aus Sumgait und von der Flughafendemonstration im Juli, bei der es einen Toten gab. Offen wird geredet, wird geschimpft. Ein Volk in Bewegung, trunken von diesen noch ungewohnten demokratischen Möglichkeiten.

Donnerstag, 15.September: In Karabach wird gestreikt, ein gerade eingetroffener Lehrer aus Stepanakert, der russisch spricht, da sein Armenisch zu schlecht sei, bittet um brüderliche Unterstützung. „Generalstreik“, ruft die Menge das Karabach-Komitee beschließt für den kommenden Tag den Ausstand. Das Karabach-Komitee, das ist die selbsternannte Führung der Bewegung, bestehend aus 11 führenden Intellektuellen und Wissenschaftlern. Daneben gibt es mehrere hundert Aktivisten. Ashiot ist einer von ihnen, ein 35jähriger Physiker, offen und sympathisch, voller nationaler Begeisterung und hungrig nach internationalen Informationen. Er war in der Ökologiebewegung gegen Kernkraft und die Chemiebetriebe, die die Luft Eriwans verpesten, führend aktiv. Im Februar hat sich die Öko -Bewegung in der nationalen Bewegung faktisch aufgelöst.

Am Freitag streiken die Schüler, Studenten und Lehrer sowie die Belegschaften der großen Industriebetriebe. Am Samstag findet eine Mahnwache an der Oper statt, ein Fotograf, der bei vielen Demonstrationen fotografiert hat, ist erstochen worden und wird schon zum Märtyrer. Zwei Tage später erfährt man, daß er an einem privaten Eifersuchtsdrama starb - die Stimmung gegen die Aserbeidjaner ist jedoch weiter aufgeheizt. 20.000 sind bereits aus Armenien geflüchtet.

Sonntag nacht wird ein neuer Zusammenstoß aus Karabach bekannt. Bei Schüssen auf einen von Armeniern besetzten Autobus und den nachfolgenden Auseinandersetzungen werden 14 Aserbeidjaner und 15 Armenier verletzt. Kurze Zeit später stirbt einer der armenischen Verletzten. Noch in der Nacht ziehen lautstark Aktivisten durch die Stadt und fordern zum Streik auf. Am nächsten Tag sieht man die Streikenden, Parolen rufend, in allen belebten Straßen.

Montag mittag kommt der armenische Staatspräsident auf den Opernplatz. Die Menge empfängt ihn kalt, ab und zu gibt es Pfiffe. Es geht um den Wunsch der Bewegung, eine außerordentliche Sitzung des Obersten Sowjets in Armenien einzuberufen. Dann stellt sich der Staatspräsident den ihm auf Zetteln hinaufgereichten Fragen der Menschen. Er nennt Zahlen: 1.700 aserbeidjanische Flüchtlinge sind in Karabach angesiedelt worden, im Dorf Soschi. 17.000 bis 18.000 armenische Flüchtlinge aus Aserbeidjan gibt es.

Am Montag nachmittag kommt es indirekt zu einem telefonischen Gespräch zwischen Gorbatschow und dem Karabach -Komitee, via erstem armenischen Parteisekretär. Das hat es noch nie geben, daß der Parteichef in Moskau faktisch mit einer unabhängigen Bewegung verhandelt. Das Komitee fordert eine sofortige Lösung für Karabach, Gorbatschow bittet um Zeit. Aber das Komitee lehnt es ab, Streiks und Demonstrationen einzustellen.

Montag abend gibt es Gerüchte über eine bevorstehende Entsendung von Militär aus Moskau. Für diesen Fall wird die Parole ausgegeben: nicht beachten.

Als wir Dienstag früh aus Eriwan abfliegen, landen auf der Rollbahn daneben in dichter Folge Militärtransporter, laden Soldaten aus, fliegen wieder ab. Es sind Einsatztruppen des Innenministeriums, bestimmt für Eriwan und Karabach.

Kerstin Witt

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