Sonntags immer

■ Spaziergangsprotokolle

Bahnhof Zoo. Hier sind manche Zeitungsfetzen, die auf dem Boden liegen, mit Blut besudelt. Echtem Blut. Und die Atmosphäre ist durchtränkt mit Erinnerungen:

Wie einst die Ordnungsmacht auf flinken Füßen hinter uns hereilte, knüppelschwingend. Wir rein in diesen Bahnhof. Sie schossen Tränengas hinter uns her. Wir rauf auf die S.Bahn. Ha, da durften die Behelmten nicht hinterher, war damals doch alles DDR-gelände. Damals. (Holger-Meins-Demonstration 1974)

Heute warten oben bereits die BVG-Kontrolleure. Da es also keinen Ausweg gibt, ist es besser mit der lLucht aufzuhören und einen Fahrschein zu lösen. Richtung Wannsee vielleicht. Dem Grunewald entgegen. Holzauktion? Keine Rede davon. Avus ist hier angesagt. Dröhnend klingt der Fortschritt in den Ohren. Nichts wie weg hier.

Einige Wegminuten vom S-Bahnhof Grundewald entfernt liegt dieses Landhaus. „Bott“ heißt es. Klinisch weiß - im Stil der neuen Zeit. Lärmend verlassen einige Yuppies das Lokal. Wen sie nicht sehen, ist die alte Frau, die durch den Zaun linst. Sich dieses Landhaus anschaut. Die Strümpfe sind ihr heruntergerutscht und es mag sein, daß sie sich nach etwas Eßbarem sehnt.

Eben noch muß die Alte an diesem parkenden Spezialtransporter vorbeigekommen sein: eine Sonderanfertigung für den „Afghanen-Zuchtverein“. Es ist ausgeschlossen, daß mit derlei Aufschriften öffentlich für „Dope-Transporte“ geworben wird. Immerhin befinden wir uns im Grunewald. Ganz in der Nähe der Reiterstaffel der Westberliner Polizei. Also bitte.

Nichts liegt da näher als der Bullenwinkel. Ein paar faltige Nackte liegen noch dort. Professionelle FKKler. Sie lagern mit dem Segen des Senats hier: „Öffentliche Nacktbadestelle“. Das war nicht immer so. Anfang des letzten Jahrzehnts schlugen sich die Nackten noch tapfer für das Recht auf angebliche Obszönitäten, mit den Bullen im Bullenwinkel. Oder sie verprügelten die Spanner. Nun hat sich auch hier das „Legalize it“ durchgesetzt. Der Grunewaldsee ist in jeder Hinsicht Paradies geworden Hundeauslaufgebiet eben.

Ein Paradies muß saubergehalten werden. Was zu dokumentieren wäre durch die Rohre, die hilflos auf dem See treiben: „Im Zuge der Maßnahmen der Reinhaltung der Berliner Seen...“ verkündet ein Schild. Nicht nur Rohre werden in die Reinheit investiert, auch Zäune. Zäune und Schilder. Noch eines: „Eine beruhigte Zone“ soll hier entstehen, in „einem der letzten Weiden-Auenwälder“. Deshalb jetz ein neuer „Rundwanderweg“ um den See, der weg vom Ufer führt. Sehr richtig: Schützt die Natur vor den Menschen! Doch wer schützt die Spezies vor sich selbst? (knarre koofen, ran an‘ kopp und abdrücken. wenigstens eena wenjer. sezza) Das mag nicht interessieren, doch was nun wirklich interessant ist, daß, so sagt ein anderes Schild, der neue Rundwanderweg “ eine neue Qualität“ darstellt. Ja, selbst der Rundgang um den Grundewaldsee ist nicht frei von dialektischen Sprüngen.

Was wird bleiben? Schier mag man/frau sich in derlei philosophischen Fragestellungen verlieren - durchaus angemesen für den, der sich die Königin-Luise-Straße entlang bemüht, denn: Gelfertstr. Klingt es da nicht in den Ohren? Das alte Philosophische Institut war hier in einer herrlischen Villa untergebracht. Dort wo Jacob Taubes mit Margeritha von Brentano Klavier spielte. Damals.

Ganz in der Nähe findet sich noch jemand von damals. Ein Dr. Phil: Rudi Dutschke liegt im Schatten der St. Annen Kirche auf dem Städtischen Friedhof Dahlem. Er liegt unter dicht wucherndem Efeu und verblühenden Astern. Am 24. Dezember jährt sich sein Todestag. Dann wird es kalt sein und neblig. Sicher wird es neblig sein. Doch wer dann ganz still und leise auf diesen Friedhof tritt, wird jenen Ruf hören: „Genossen, Antiautoritäre, Menschen...“ Vielleicht wird daraufhin auch ein Stöhnen aus den benachbarten Gräbern zu vernehmen sein. Vielleicht.

Jetzt scheint erst einmal noch die Herbstsonne. Und es ist noch kein Nebel in Sicht.

Detlef Berentzen