„GEHEIMNIS GELÜFTET“

■ Sechste Literaturnacht im Statthaus Böcklerpark

„Ich wollte doch nur in die Nacht hinausschleichen und irgendwo verschwinden und herausfinden, was die Menschen im ganzen Lande machten.“ (Kerouac, 'On the road‘) Laut Kerouac hatten ES die amerikanischen Literaten der vierziger und fünfziger Jahre. Das Publikum rief während begeisterter Rezitationen „go, go“ oder „ja, ja“ und alle dachten, daß etwas besonders Großartiges hier & jetzt passieren würde. Daran denkt wohl heutzutage kaum einer mehr; junge Autoren haben ES nicht mehr und nur Lehrer glauben daran, daß Literatur etwas mit Welt- oder Selbstveränderung zu tun haben könnte.

Statt dessen bröckelt das ohnehin nicht besonders zahlreich erschienene Publikum langsam ab, während Michael Leisching, schon ziemlich am Ende, das Letzte, seine zum Großteil schlecht geklauten (vom Oberdadaisten Johannes Baader, schon unerträglich genug, etc.) Texte unter dem Titel „Michael Bakunin und Andre Breton begegnen sich in einer Vagina und begrüßen einander nicht“ frischgewaschen präsentiert. Der Titel ist peinliches Programm. Seine Texte schwanken zwischen Verzweiflungen, die man ihm nicht abnimmt, und Schwänzen, die man ihm abnehmen sollte. Mit dem üblichen DDR -Künstlerbonus behaftet - 1977 kam der erklärte Anarchist nach zweijähriger Haft in den Westen - wird Leisching wohl noch einige Zeit die Möglichkeit eingeräumt werden, mit kümmerlichen Texten herumzunerven.

Ein weiterer Anarchist und Nachwuchsautor, der in der Literaturnacht mal besser, mal schlechter herumdelirierte, heißt Th. Hertz-Schrittmacher. Er demonstrierte das Gefangensein in den menschenverachtenden Verhältnissen IHRER Machtsysteme, verschnürt in einem Sack sich windend, während vom Band eine knarrende Stimme, eingebettet in einen Maschinensynthesizerrhythmus, dem geschockten Publikum verkündete: „Denken Sie nur nicht, ich wär verrückt.“ Aber nicht doch - die Künstler trotzen vor pausbäckig provokativer Gesundheit. Eine andere Künstlerin, Agnes Vennen, fiel vor allem durch aufgedonnertes Aussehen und ihren nach einem Jahr USA erworbenen Akzent auf; „vielleicht sind alle meine Träume krank“, mutmaßt sie zwischen Statements über Outfit und darüber, daß alles schon einmal dagewesen wäre.

Nicht alles ist Mist. Ein Glücksfall zum Beispiel ist Detlef Krenz, der sicher mehr an Welt und Text interessiert ist als am Ich und seinem angeblichen Erfahrungsverlust. Demzufolge sind seine Recherchen zwischen Polizeikessel am Wittenbergplatz, harmlosen Verkäuferinnen, Knast und Verkehrskontrollen spannend - in der Welt passiert's, im Ich nie - zumal er so aufgeregt, deutlich und schnell nuschelt. Saubere Recherchen machen auch den Roman von Peter Feraru über Berliner Ringvereine der zwanziger Jahre interessant. Mag sich auch ein Klischee der Zillezeit an das nächste reihen, so ist man doch gespannt, wie's weitergeht mit dem Gustav, der auf Gott peift und davon ausgeht, daß die Brüder weiterhelfen.

Es wurde immer später, wie eine schlechte Party, von der man nicht loskommt. Dies Nicht-loskommen hatte allerdings die positive Folge, Kathrin Burmeister noch einmal sehen und hören zu können, die mit heller Stimme davon berichtet, wie sie dem erotischen Begehren eines 17jährigen Schülers - ihm nämlich einen runterzuholen - im düsteren Hausflur Genüge tut. Man erfährt immer etwas in der Literatur und muß deshalb, wenn es einen interessiert, eben hingehen. Die erstaunlichsten Neuigkeiten jedoch werden einem am Rande mitgeteilt. Der Mann mit der Plastiktasche erzählt, daß Hans -Joachim, der Journalist mit dem Fernglas, in Seoul weile, um für eine AMERIKANISCHE Zeitschrift über die Spiele zu berichten. Er würde wohl bis Januar dort bleiben. Kerouacmäßig, das heißt an allem begeistert interessiert, wird in nächster Zeit in Berlin also nur noch einer sein.

Detlef Kuhlbrodt