„Reisender, der Du nach Bitterfeld kommst...“

■ Chemie und Umweltzerstörung in Bitterfeld / Das ökologische Netzwerk „Arche“ versucht eine erste Einschätzung / Katastrophale Zustände bei der Entsorgung der giftigen Abfälle / Hauptsache weg und außer Sicht / Die Zerstörung der Umwelt und ihre sozialen Folgen

Anmerkung der Redaktion: „B. ist die schmutzigste Stadt Europas. Das wäre der erste Satz, so müßte ich anfangen“, schrieb Monika Maron in ihrem Roman „Flugasche“, der bis dato nicht in der DDR erscheinen soll. „B.“, das ist die Stadt Bitterfeld, Zentrum der Chemischen Industrie in der DDR, die nicht nur schmutzig, sondern auch ökologisch hoch belastet ist. Das ökologische Netzwerk „Arche“, ein Zusammenschluß von Umweltgruppen in der Evangelischen Kirche in der DDR, hat sich dort umgesehen und in seinem Informationsblatt 'Arche Nova‘ einen Bericht über den katastrophalen - Zustand der Region verfaßt. Der übernommene Text wurde leicht gekürzt. Die „Arche“ hat darüberhinaus einen Film über die Region unter dem Titel „Bitteres aus Bitterfeld“ hergestellt, der in kleinen Veranstaltungen in der DDR und Ost-Berlin gezeigt wird (siehe Meldungsspalte).

Wenn ich versuche, in den folgenden Zeilen einige Worte für meine Stadt zu finden, fällt mir das sehr schwer; ich könnte im Wissen der Tatsachen die Flucht ergreifen, wie viele andere auch! Ich werde meine Stadt aus der Perspektive eines unbeteiligten Außenstehenden betrachten. Ich glaube, das wird mir einiges erleichtern.

Reisender, der Du nach Bitterfeld kommst, bedenke den Rat der Drei Weisen. Schließe die Augen, verstopfe Dir die Ohren und halte um Gottes Willen den Mund! Das bezieht sich hier auch auf Deine Gesundheit!

Die „Dunstglocke“ wird selbst vom Durchreisenden bemerkt, sogar im Sommer werden in Reisezügen die Fenster geschlossen. Das Schlimmste, was den Bitterfeldern um 1840 passieren konnte, war das Auffinden eines gut ausbeutbaren Kohlevorkommens. Hier begann die Zerstörung einer Landschaft, einer der interessantesten Feuchtgebiete der Mulde-Niederung. Verarmte Landarbeiter und Bauern wurden zu Lohnarbeitern, die in den Tagebauen, Steinzeugfabriken und Tongruben ihr Brot verdienten. Triebkraft war im beginnenden 19.Jahrhundert die Industrialisierung. Der Maximalprofit zog weitere Industriezweige nach sich. Die Chemie hielt Einzug in Bitterfeld. Der Erste Weltkrieg und auch der Zweite trieben die Chemie in ungeahnte Höhen. Trotz des verlorenen Krieges 1945 und der Zerstörung ging die Industrialisierung im Bitterfeld-Wolfener Raum weiter. Ausgesiedelte Arbeiter aus Schlesien, Ostpreußen und vielen anderen Gebieten kurbelten die Produktion an, um Brot und Arbeit zu haben.

Eine Mondlandschaft

Ergebnis dieser Gesamtentwicklung ist: Zweidrittel der Landschaft um Bitterfeld ist in bestimmten Gebieten bis zu 70 Meter tief auf- und umgewühlt. Die Tagebaulandschaft, ein in Jahrtausenden nicht oder nur schwer reparierbares Gebiet, ist einer Mondlandschaft gleich.

Chemieanlagen aus den Jahren 1906 bis 1911 produzieren heute noch, mit teilweise dreifachem Produktionsausstoß. Im Zuge der Industrialisierung der Landwirtschaft stellte sich die Produktionspalette um. Insektizide, Pestizide, Fungizide und Düngesalze werden in Großanlagen hergestellt. Waren es 1950 64 Pflanzen- und Schädlingsbekämpfungsmittel (PSM) mit 26 Wirkstoffen, so sind es 1984 405 PSM mit 210 Wirkstoffen. Unwissenheit, Profitdrang (auch heute), Schluderei und Verantwortungslosigkeit sind besonders in der Chemie Ursachen für schwerste Umweltbelastungen. Allein im Bezirk Halle sind es 6.000 Großschornsteine. (Von diesen 6.000 Schornsteinen sind 675, also knapp zehn Prozent, als Emittenten registriert. Nur diese werden von staatlichen Stellen überwacht. Alle anderen Emittenten geben unkontrolliert ihre Schadstoffe in die Umwelt ab. Belastete Abgase werden grundsätzlich übers Dach geblasen und ziehen dann über die Stadt. Was sonst an gefährlichen Stoffen anfällt, wird fast ausschließlich entweder in die „Mulde“ (Nebenfluß der Elbe - d. Redaktion) gespült oder in Tagebaurestlöchern verscharrt; Hauptsache, es ist raus aus dem Werk. Aber nur wenige Meter entfernt vom Werk wird intensiver Land- und Gartenbau betrieben, den direkten Einfluß von toxischen Stoffen auf Nahrungsmittel nimmt man einfach in Kauf.

Einfach alles wegkippen

Der Untergrund unter den Werken ist durch eine undefinierbare, farbige, stinkende Brühe, die zum Teil sehr ätzend ist, total verseucht. Diese Schwierigkeiten treiben die Planer dazu, das Werk mit seinen Neuanlagen zu expandieren, statt Abrißgelände nachzurüsten. Besonders bei dem Deponieverhalten des Chemiekombinates (CKB) zeigt sich die wissentliche Negation der Gefahren aus den Chemieabfällen. Die Deponie „Freiheit III“ ist eine der bestgesicherten, obwohl sie nicht als Sondermülldeponie ausgewiesen ist. Dort werden quecksilberhaltige Abfälle und Bauschutt verkippt, gebrauchte Fässer und Plastikbehälter, zum Teil noch halb voll mit gefährlichen Chemikalien. Schwermetallhaltiger Schlamm wird direkt per Waggon und Gleisanschluß zur Deponie gebracht und von großen Baggern versetzt. Bemerkenswert ist, daß auf der tiefer als 25 Meter liegenden Tagebausohle mit Hilfe von Pumpen „Brauchwasser“ gewonnen wird und somit die Schadstoffe in gelöster Form dem Werk wieder zugeführt werden. Besonders schwer wiegen aber die „Altlasten“, die kaum noch sichtbar als Abfälle seit Beginn der Chemieproduktion eingelagert werden. Alle Tagebaue werden 50 bis 60 Meter tief ausgebuddelt und gehen durch die im östlichen Teil des Kreises in etwa 20 Meter Tiefe liegende Tonschicht hindurch. Damit werden die eingelagerten Stoffe vom Oberflächenwasser herausgelöst und können in das tiefer liegende Grundwasser, dem eigentlichen Schatz allen Lebens, gelangen. Wissenschaftler sprechen von einem Zeitraum zwischen 50 bis 80 Jahren, die das Oberflächenwasser braucht, um in die tiefen, wasserführenden Schichten einzudringen und somit die Kreisläufe des Wassers bis zu uns wieder zu schließen. Nach Aussagen des Chemiekombinates werden täglich 9.000 Menschen per Bus und Bahn transportiert. Circa 23.000 Menschen arbeiten täglich in den Werken. Die Straßennetze um das Werk herum sind total überlastet und verschlissen. Und freitags kriegt der Papa dann noch den Schlüssel für den Trabi, damit man sofort flüchten kann - in die „Heide“, in die pseudoheile Welt, die genauso kaputt ist! So kommen zu den Schadstoffen noch die Fahrzeugabgase. Nur mit einem hohen Aufwand an Polizei und Hilfskräften ist der Berufsverkehr zu lenken und zu leiten, weil viele Wege durch Bitterfeld führen, allein drei Fernverkehrsstraßen. Viele Chemieprodukte verlassen das Gelände per Achse, das heißt per Auto oder Eisenbahn. Unglücksfälle bilden hier eine ständige Gefahr. Erinnert sei an das schwere Chemieunglück von 1968, das über 68 Todesopfer forderte und viele, viele geschädigte Bürger hinterließ. Aber vieles wird verheimlicht, und wer etwas sagt, macht sich strafbar oder ist zumindest ein Lügner oder ein Provokateur.

Pseudo-Kläranlagen

Kläranlagen haben hier nur eine Pseudofunktion, sie sind nur Alibi, vertuschen die Probleme, mehr als eine Neutralisation durch Kalkeintrag passiert nicht. Überhitzt - 35 bis 40 Grad - und somit ohne Sauerstoff, ohne Selbstereinigungskraft fließt das Wasser in Flüsse und Gräben. Alles begradigt, alles betoniert. Hauptsache weg! Das Gebiet beginnt auszutrocknen. Nicht nur durch die Chemie, besonders durch die Tagebaue mit ihren Grundwasserabsenkungen wird die Gegend regelrecht ausgeblutet. Die Landschaft ist auf künstliche Bewässerungssysteme angewiesen. Laut Fernsehfunk sind bis zu 35 Prozent der Böden von Erosionen bedroht, auch hier! Da man aber noch gar nicht in der Lage ist, mit den Grubenwässern umzugehen und sie für die Landschaft und Industrie einzulagern, also zurückzuhalten, gehen sie uns gnadenlos verloren. Man spricht von 47 Prozent Defizit bei dem Grundwassereintrag. Und leise schließt sich wieder der Kreis der Gefahren: Fehlendes Grundwasser und selbst das aus tieferen Schichten ist übernitriert - für die Trinkwassergewinnung kaum noch zu verwenden. Warum? Die Deponien der Chemie, die Auswaschungen des Sauren Regens aus der luft und dem Boden sind dafür verantwortlich. Jeder Regen bedeutet für die Stadt Bitterfeld eine große Wäsche alles schäumt nach den ersten Regentropfen. Regeneinläufe und Straßen haben weiße Schaumblasen. Das Argument: „Gut, daß wir die alkalische Flugasche haben!“ ist genauso dumm wie unwahr.

Soziale Verarmung

Die Zerstörung der Umwelt hat auch soziale Folgen: Eine geistige Verarmung der Bevölkerung, besonders der Jugend, ist zu beobachten. Alkoholismus, Sadismus gegen Mensch, Tier und Landschaft sind alltäglich. Arbeitsmoral und jegliche Kreativität, ob in Kunst oder Kultur, sind im Fallen und haben oft schon erschreckende Ausmaße erreicht. Gleichzeitig tritt das Stadium „Mir ist alles egal, die da oben haben ja sowieso die Macht“ ein, so daß viele Menschen gegenüber Natur und Umwelt gleichgültig werden. Außerdem hat das Kulturangebot im Vergleich zu den sechziger Jahren den Nullpunkt erreicht. Gab es 1960 noch Dinge, wie den „Bitterfelder Weg“, volkstümliche Musikgruppen aller Richtungen, Garten- und Volksfeste, so sind das heute vor allem Freßorgien und Saufgelage.

Hoher Verdienst und Doppelverdienst bei viel Freizeit lassen reine und absolute Konsumenten heranwachsen. Eine Familie mit einer monatlichen Nettogeldeinnahme von 2.500, Mark ist keine Seltenheit. Viele von ihnen fahren in ihrer Freizeit bis nach Leizig zum Einkaufen. Die Bitterfelder Versorgung ist nicht besonders. Es fehlt an Angebotsvielfalt und vor allem an Gemüse. Bestimmte Artikel sind oft Mangelware. Jahrelanges Fehlverhalten der Stadtverwaltung haben Bitterfeld zu einer grauen, schmutzigen, sterbenden Stadt gemacht. Nur mit einem ungeheuren Kraftaufwand beginnt man jetzt mit der Werterhaltung.

Nicht alle Menschen wollen in der Chemie arbeiten. So werden Arbeitskräfte aus Polen, Ungarn, Schweden, BRD, Vietnam, Angola und Mosambik herangezogen. Die einen kommen wegen der „guten Ausbildung“, die anderen wegen des guten Verdienstes. Viele haftentlassene Bürger haben eine Arbeitsplatzbindung im CBK und die dazugehörigen Auflagen (Berlin-Verbot). All dieses Einflüsse verschärfen die regionalen Probleme. Die Kommunalverwaltung ist eine der aggressivsten der Gegend.

Bitterfeld ist in Sachen Luftverschmutzung führend, es ist die einzige Region der DDR mit einem Smogschutzsystem! Aber Entscheidungen über die Auslösung der Maßnahmen werden vom CKB-Direktor getroffen, nicht von einem unabhängigen Gremium. Bisher mußte sich kein Bürger einschränken. Kein Fahrverbot und keine Hausbrandeinschränkung.

Anschließend sei die Frage erlaubt: Wann werden den Eltern der an Pseudokrupp oder an chronischer Bronchitis erkrankten Kinder endlich die Ergebnisse der WHO-Untersuchungen mitgeteilt? Wann hört endlich die Entmündigung der Bürger in Sachen Umwelt und Gesundheit hier in Bitterfeld auf?

Ein Bitterfelder

Was hat Vorrang in Bitterfeld? Wo können wir anfangen, was könnte erfolgreich sein, wer stellt eine Prioritätenliste auf?