„Irgend jemand hat ihr etwas angetan“

Die Mißhandlung des 15jährigen schwarzen Mädchens Tawana Brawley sorgt seit fast einem Jahr für Schlagzeilen in den New Yorker Zeitungen und für Zündstoff im schwelenden Rassenkonflikt zwischen Schwarzen und Weißen in den USA / Politiker nutzen den „Fall“ für ihre ehrgeizigen Ambitionen  ■  Aus New York C. Schlimmfinger

Tawana Brawley? „Eine Schlampe“ (Eine Mitschülerin). „Dieses Mädchen, das so viel besser ist als alle, die über sie reden“ (Der Reverend Al Sharpton). Der Reverend? „Ein Clown“ (Die Wochenzeitung 'Village Voice‘). „Unser Held“ (Ein Schwarzer aus dem Ghetto Bedford-Stuyvesant). Der Gouverneur? „Er hat mein Vertrauen“ (Jesse Jackson). „Ein Rassist“ (Al Sharpton).

Tawana Brawley, Al Sharpton und New Yorks Gouverneur Mario Cuomo sind Hauptfiguren in einem Drama, das seit einem dreiviertel Jahr in New York Schlagzeilen macht, Schwarz und Weiß polarisiert. Ist das 15jährige schwarze Mädchen das verstörte Opfer brutalen sexuellen Mißbrauchs oder eine verstockte Lügnerin? Will Mario Cuomo eine objektive Untersuchung des Falls oder deckt er eine rassistische Verschwörung? Kämpft Reverend Al Sharpton um Gerechtigkeit für Schwarze oder ist er ein skrupelloser Scharlatan?

Der „Fall Brawley“ ist mehr als ein Kriminalfall. In ihm werden für den weißen, außenstehenden Beobachter die Härte der schwarz-weißen Auseinandersetzung ebenso deutlich wie Mechanismen des Kampfes um Einfluß innerhalb der schwarzen Gemeinschaft.

Opfer, Fall, Kampagne

Am 28.November letzten Jahres wird bei Wappingers Falls, einer Kleinstadt 50 Meilen nördlich von New York City, das seit vier Tagen von ihrer Mutter vermißte schwarze Mädchen Tawana Brawley in einem entsetzlichen Zustand gefunden. Sie ist mit Hundekot beschmiert, auf ihren Oberkörper hat jemand „Nigger“ und „KKK“ (Für Ku Klux Klan) gekritzelt. Tawana ist in einem schweren Schockzustand. In den nächsten Stunden und Tagen gibt sie nur durch Kopfschütteln, Kopfnicken und über Zettel auf Fragen Auskunft. Als ein schwarzer Polizist - mit Weißen verweigert sie jede Kommunikation - fragt, wer sie attackiert hat, schreibt sie auf einen Zettel: „White cop“.

Mutter und Tante geben dann die Erinnerung Tawanas an das Geschehen weiter: Zwei weiße Männer hatten sie auf der Landstraße entführt. Einer habe Marke und Pistolenhalfter wie ein Polizist getragen. Insgesamt sechs Weiße hätten sie mehrfach vergewaltigt, sexuell mißhandelt, einer in ihren Mund uriniert. An mehr erinnere sie sich nicht.

Eine Welle der Empörung geht durch die USA. Insbesondere unter der schwarzen Bevölkerung sind Entsetzen und Wut groß. Haß, Verachtung und Unterdrückung durch die Weißen, von der schwarzen Gemeinschaft seit Jahrhunderten als bestimmendes Moment ihres gesellschaftlichen Alltags erfahren, hatten sich wieder einmal in ihrer brutalsten Form geäußert: Ein schwarzes Mädchen wird zum hilflosen Opfer der sexuellen Perversion weißer Männer. Tawana, das Opfer, wurde umso schneller zu Tawana, dem Symbol weißen Rassismusses, als sich die Tendenz der polizeilichen Ermittlungen abzeichnete.

Ermittler fanden Widersprüche, Rätsel, Indizien, die nicht zur Darstellung der Familie Brawley paßten. Drei zunächst verdächtigte, miteinander befreundete Männer - ein Staatsanwalt, ein Polizist und ein Teilzeitpolizist, der Anfang Dezember Selbstmord beging - wurden vom FBI als mögliche Täter praktisch ausgeschlossen. War dies nicht die Art der „Ermittlungen“, die Schwarze vom weißen „Apparat“ bis zum Überdruß kannten?

Tawana selbst schweigt bis heute. Ihre Familie verweigert jegliche Zusammenarbeit mit dem von Gouverneur Mario Cuomo bestellten Sonderermittler, Generalstaatsanwalt Robert Abrams. Er gilt als unbestechlicher, reformfreudiger Jurist. Doch die Brawley-Berater fordern seine Abberufung: „Dies ist eine weiße Verschwörung unter Einschluß von Cuomo, Abrams und der Justiz, um die Tatsache zu vertuschen, daß weiße Beamte Tawana sexuell mißbrauchten. Die Täter sind bekannt“, sagen sie. Das ist die Version, die viele Schwarze glauben. „Tawana ist zum zweiten Mal Opfer geworden, ein Opfer ihrer Berater, die mit dem Gesetz Schindluder treiben“, sagt Mario Cuomo. Ihr Katz-und-Maus-Spiel diene nur der Verschleierung der Wahrheit und ihren eigenen egoistischen Ambitionen. Das ist die Version, die fast alle Weiße glauben.

Die Kampagne der angesehenen Bürgerrechtsanwälte C. Vernon Mason und Alton J. Maddox, die sich mit dem schillernden Reverend Al Sharpton (siehe Kasten) zusammengetan haben, zielt gegen das Justizsystem, geht aber auch um Macht und Einfluß innerhalb der „black community“. „Wenn wir das durchziehen, sind wir die drei größten Nigger in der Stadt“, triumphiert der Reverend.

„Irgend jemand hat ihr

irgend etwas angetan“

„Als Schwarzer bekommst du kein Recht“, sagt mir eine Frau am Rande einer Demonstration für Tawana. Sie sagt es ohne Wut, ohne Erstaunen. So ist es eben.

So waren vor allen Dingen Schwarze nicht schnell zu beeindrucken, als schon bald Zweifel am Wahrheitsgehalt der Geschichte Tawanas aufkamen. Die 'New York Times‘ faßte in mehreren großen Artikeln den Stand der Ermittlungen zusammen. Was weckte die Zweifel? Medizinische Tests ergaben nach Angaben des FBI keine Anzeichen für Vergewaltigung, sexuellen Mißbrauch oder Mißhandlungen. Das Mädchen war gut ernährt und nicht länger unter freiem Himmel gewesen, als es in der Nähe eines Appartments, aus dem die Familie erst 14 Tage zuvor ausgezogen war, gefunden wurde.

War sie in den vier Tagen ihres Verschwindens dort gewesen? Zeugen sagen, sie hätten sie gesehen und Geräusche aus der Wohnung gehört. Andere wiederum wollen sie auf der Party eines Drogendealers in einer Nachbarstadt bemerkt haben. Rätselhaft ist schließlich die Tatsache, daß knapp eine halbe Stunde vor Tawans Wiederauftauchen ihre Mutter Glenda in dem Appartmentwohnhaus beobachtet wurde.

Hatte Tawana Grund, von zuhause wegzubleiben? Ihre Mutter lebt mit Ralph King zusammen, einem Mann, der wegen Totschlags an seiner ersten Frau sieben Jahre gesessen hatte, und der als aufbrausend und jähzornig gilt. Nachbarn berichten von gewalttätigen Auseinandersetzungen in der Familie, Tawana hatte mehrfach, zuletzt drei Tage vor ihrem Verschwinden, heftigen Streit mit ihm, als sie erst morgens von einer Party kam. Am Tag ihres Verschwindens hat sie die Schule geschwänzt, um ihren ehemaligen Freund im Knast zu besuchen. Sie fürchtete die Heimkehr, sagte dessen Mutter aus.

Die 'New York Times‘ legt dem Leser in Frageform eine mögliche Interpretation der Rätsel und Spekulationen vor. „Fand Glenda Brawley ihre Tochter in dem Appartment? Rief sie Mr. King dazu? Kam es zu einer Auseinandersetzung, nach der Tawana in dem Zustand zurückblieb, in dem sie gefunden wurde?“ Schwarze Zeitungen beschuldigen die weißen Medien des Zynismus. Proben für die medizinischen Tests seien verfälscht worden, behauptet die 'City Sun‘ aus Brooklyn. Die Arbeit der Ermittler stockt. Ein hoher Justizbeamter faßt das magere bisherige Ergebnis so zusammen: „Ich glaube, daß die Geschichte so, wie sie bekannt wurde, nicht stimmt. Aber irgendjemand hat ihr irgendetwas angetan.“

„Die wirkliche Geschichte der Tawana Brawley könnte sein, daß es gar keine Tawana-Brawley-Geschichte gibt. Das ist eine Geschichte von Sharpton, Maddox und Mason.“ Mit diesen Worten beschuldigt im Juni Perry McKinnon, Sicherheitsberater, Privatdetektiv und eineinhalb Jahre lang Mitarbeiter von Sharpton die drei Brawley-Berater, von Anfang an mit gezinkten Karten gespielt zu haben. Sie hätten gewußt, daß die Darstellung der Brawleys nicht stimme. Als er jedoch angeboten habe, gewisse Angaben zu überprüfen („Etwas ist faul an der Sache“), sei das dankend abgelehnt worden.

Für die drei Beschuldigten und ihre Anhänger ist der Privatdetektiv ein „rent a tom“, ein Mietnigger im Dienst des weißen Systems und der „majority press“, der die schwarze Gemeinschaft spalten, den Kampf für Gerechtigkeit lähmen soll.

Der Kampf um die

„black comunity“

Einheit und Geschlossenheit in der black community, beschwört das Trio auf den seit Monaten stattfindenden wöchentlichen Kundgebungen vor einer Kirche im Schwarzenghetto Bedford-Stuyvesant in Brooklyn. Ende Juni hatte in dieser Kirche Mutter Glenda, „unsere stolze afrikanische Königin“, Zuflucht vor den Nachstellungen weißer Justiz gefunden. 30 Tage Haft sollte sie absitzen, weil sie nicht vor der Grand Jury erschien, die Zeugen im Fall Brawley hört.

Glendas „Asyl“ im Herzen eines schwarzen Ghettos, ihre von Leibwächtern des „Black Islam„-Führers Farrakhan, das symbolisiert Stärke und Beschränkung der Kampagne ihrer Berater. Sie wollen keine weißen Liberalen, keine anderen Minderheiten wie z.B. Puertoricaner einbeziehen. Sie wenden sich radikal an eine „aktive Minderheit“ von Schwarzen, die sich „hoffnungslos und machtlos fühlen. Für solche sind die drei überlebensgroße Männer, weil sie das System bis in die Wurzeln erschüttern“, analysiert ein Sozialwissenschaftler. „Sie sind unsere Helden, die Malcolm X des Justizsystems“, sagt einer auf einer Demonstration.

Für viele sind sie dadurch unglaubwürdig geworden. Doch die etablierten schwarzen Politiker sind vorsichtig, taktieren, um Einfluß, Ansehen und Pfründe nicht zu verlieren. „Sie haben Angst, Onkel Tom genannt zu werden“, meint Cuomo über eine Reihe schwarzer Persönlichkeiten, die ihm gegenüber das Trio kritisierten, sich aber weigerten, es öffentlich zu tun. Ende August trafen die Familie Brawley und ihre Berater den schwarzen Politiker Jesse Jackson, der sich bislang aus dem Fall herausgehalten hatte. Für Jackson ist „der Fall Teil des größeren und wachsenden rassischen Antagonismus und des Verlusts des Vertrauens in das Justizsystem“.

Diese Zusammenhänge machen in der Tat den Fall Brawley, unabhängig von dem, was Tawana tatsächlich zugestoßen ist, für die schwarze Gemeinschaft als Symbol so wichtig, die Brawley-Berater zu respektierten Personen. Sharpton, Mason und Maddox verfolgen ihre Kampagne deshalb auch entschlossen weiter. Im August gründeten sie ein „United African Movement“, das rassistische Übergriffe im Staat New York untersuchen soll. Ihr politisches Ziel ist klar: Einfluß auf die schwarzen Wähler für die Bürgermeisterwahl im nächsten Herbst gewinnen. Noch ist die Chance für den Reverend also nicht vertan, über seine Rolle im Fall Brawley einer der „drei größten Nigger in der Stadt“ zu werden.

Jetzt, fast ein Jahr nachdem Tawana Brawley verstört, mißhandelt, mit Fäkalien beschmiert gefunden wurde, sind politische Rücksichten und politische Absichten die einzigen Faktoren, die die Behandlung des Falls zu bestimmen scheinen. Tawana und ihre Familie ziehen, so die letzten Nachrichten, in den Süden nach North Carolina zu Verwandten, wo sie unter einem anderen Namen zur Schule gehen wird. Tawana sei immer noch zutiefst verstört, berichten die wenigen, die sie treffen, und die Familie scheint des Lebens als Spielball von Medien, Politikern und Justiz müde geworden zu sein.

Die Grand Jury, deren Mandat bis in den Oktober verlängert wurde, wird voraussichtlich einen Abschlußbericht vorlegen. Er wird beklagen, ohne Zusammenarbeit mit den Brawleys nur die Ungereimtheiten des Falls aufzeigen zu können und die Familie und ihre Berater der Behinderung der Justiz bezichtigen. Damit ist der Fall „offiziell“ abgeschlossen. Doch damit ist das, was wer auch immer Tawana zugefügt hat, nicht aufgeklärt, ist auch eine Chance vergeben, den „Fall“ Tawana Brawley zu einer Kampagne für ein gerechteres Justizsystem zu nutzen.