Lafontaine, die Macht und die Freiheit

■ Dem saarländischen Ministerpräsidenten und stellvertretenden SPD-Vorsitzenden Lafontaine geht es um die Befreiung von der Arbeit und darum, den Freiheitsbegriff zu Ende zu denken / Während die traditionelle Linke immer auf den Staat setzt, will er marktkonforme Gestaltung und normative Vereinbarungen

taz: Realistisch betrachtet gibt es für die SPD nur zwei Möglichkeiten, wieder an die Macht zu kommen: durch Zufall, so wie die französischen Sozialisten 1981, als die Leute von Giscard die Schnauze einfach voll hatten. Das kann Kohl auch passieren. Oder aber es kommt zu einem gesellschaftlichen Bruch wie '68. Für letzteres reicht meine Phantasie im Moment nicht aus. Mit welchen gesellschaftlichen Kräften wollen Sie, wenn Sie also durch Zufall an die Macht kommen, den ökologischen Reformprozeß tatsächlich durchsetzen?

Oskar Lafontaine: Ein Regierungswechsel hat immer mehrere Ursachen. Zum einen die, daß die Regierenden abgewirtschaftet haben und die Bevölkerung sie nicht mehr will. Zweitens muß es eine Oppositionspartei geben, die den Fehlern der Regierenden eigene tragfähige Konzepte entgegenhält. Meistens erkennt man, daß die Zeit für eine Änderung reif ist, auch am Wechsel kultureller Strömungen. Die Konservativen sind an die Macht gekommen, weil Ende der siebziger Jahre der Neokonservativismus groß wurde. Er war eine Reaktion auf eine gewisse Ratlosigkeit. Die Reform-Ära der Nachkriegszeit war zu Ende gegangen, und es traten neue Probleme auf. In solchen Fällen flüchten die Menschen zu Verhaltensweisen, die ihnen von früher vertraut erscheinen. Ich glaube, daß derzeit wieder ein Wechsel in der Grundstimmung stattfindet. Das drückt sich auch in der kulturellen Szene aus. Das ist die Chance der SPD. Deshalb glaube ich, daß ein Machtwechsel möglich ist.

Aber heute geht doch der Riß quer durch die Linke. Es ist ja nicht nur der Riß zwischen Gewerkschaft und SPD, auch innerhalb der SPD ist ein Riß, bei den Grünen verhält es sich ähnlich.

Die Frage ist, was ist heute die Linke? Für mich definiert sich die Linke immer über das Verhältnis zu Freiheit und Solidarität. Wenn jetzt etwa eine Politik befürwortet wird, die nicht geeignet ist, dem Grundwert der Solidarität auf dem Gebiet der Beschäftigungspolitik zum Durchbruch zu verhelfen, ist das für mich nicht linke Politik, sondern die Verteidigung von Vorrechten und Gewohnheiten. Das ist alles andere als links. Wer glaubt, man müsse den Menschen vorgeben, wie sie sich zu verhalten haben, und das „Organisation“ nennt, der hat den Freiheitsbegriff nicht zu Ende gedacht. Natürlich hat dieser seine Begrenzung im gleichen Recht und Anspruch des anderen. Das Glück des Einzelnen kann niemand verordnen. Auch Gewerkschaften können das nicht.

Die öffentliche Diskussion über Ihre Thesen hat etwas Falsches. Reden wir doch mal ernsthaft über Solidarität und Freiheit am Beispiel der Maschinenlaufzeiten. Sie fordern ja auch den ökologischen Umbau der Gesellschaft. Verlängerung der Maschinenlaufzeiten hat Konzentrationsprozesse zur Folge. Damit wird doch bestenfalls hier, im nationalen oder gar nur regionalen Rahmen Arbeitslosigkeit bekämpft. Im Prinzip werden immer mehr Waren hier produziert, die anderswo in der Welt verbraucht werden. Kann man Freiheit und Solidarität überhaupt noch so national diskutieren, wie Sie das machen? Denn Verlängerung der Maschinenlaufzeiten hier bedeutet doch auch, den Menschen in anderen Regionen der Welt Arbeit wegzunehmen.

Nirgendwo steht geschrieben, daß wir auf Dauer Exportweltmeister bleiben werden oder müssen. Daher ist es richtig, darüber nachzudenken, ob die Waren dort produziert werden sollen, wo sie auch verbraucht werden. Das hat eine ökologische Komponente. Wir müssen uns fragen, ob wir in unserem dichtbesiedelten Land eine solch dichte Produktion aufrechterhalten wollen. Wer über den Kapitalabfluß nur jammert, fragt nicht, ob nicht in sozial schwächeren Regionen mit zufließendem Kapital Produktionsstätten aufgebaut werden, die den dortigen Menschen Arbeit und verbesserte Lebensverhältnisse bieten.

Das ist die eine Seite. Zum anderen bleibt selbstverständlich, daß die Bundesrepublik als Industriestaat im Wettbewerb steht und sich international behaupten muß. Dabei spielt die Frage der Maschinenlaufzeiten - siehe Japaner oder die Vereinigten Staaten - eine erhebliche Rolle. Wenn ich auf die Bedeutung der Maschinenlaufzeiten hinweise, dann nicht nur wegen der Kostengesichtspunkte. Vielmehr sage ich, die Verlängerung der Maschinenlaufzeiten muß einhergehen mit einer deutlich kürzeren Arbeitszeit für die einzelnen Arbeitnehmer. Das geht tatsächlich dann auch einher mit einer völlig neuen Perspektive der Gestaltung der Woche. Es gibt ja bereits solche Modelle: Vier Tage in der Woche frei - bei gleichem Lohn - statt an fünf Tagen an drei Tagen, nämlich Freitag bis Sonntag, zur Arbeit. Wie etwa im Reifenwerk Continental gegenüber von Saarbrücken in Frankreich. Wer drei oder vier Tage in der Woche frei hat, für den gibt es das klassische Wochenende nicht mehr.

Es ist natürlich merkwürdig, wenn ausgerechnet wir so etwas wie Sonntagskultur verteidigen. Aber es geht ja nicht nur um uns.

Für die große Mehrheit der Bevölkerung heißt Sonntagskultur: freie Zeit haben. Zum Sonntag kam der Samstag hinzu. Das „freie Wochenende“ bewirkte ein Anwachsen der Freizeit-Dienstleistungen, was sich in einer Zunahme der Sonntagsarbeit niederschlug.

Warum aber muß man die „Sonntags - und Freizeitkultur“ mit einem Wochentag benennen? Diese Kultur kann es auch donnerstags oder montags geben.

Welche Vision haben Sie von der Gesellschaft, bei der dann auch die Menschen etwas davon haben; nicht nur freie Zeit, sondern auch die Möglichkeit, mehr miteinander zu kommunizieren?

Zunächst einmal geht es um die alte Diskussion der Befreiung in der Arbeit oder von der Arbeit. Eine Entwicklung zu stark verkürzter Arbeitszeit bringt einen Zugewinn an Befreiung und zwar von der heute weitgehend entfremdeten Arbeit. Es ist übrigens ein Witz, wenn Gewerkschafter und Politiker sich über Sonntagsarbeit streiten. Das ist ja eine Kaste, die sonntags fast immer arbeitet. Zur Perspektive: Es geht zunächst um die Befreiung von der Arbeit, ein altes Ziel der Arbeiterbewegung. Dieses Ziel der Befreiung von der Arbeit ist nicht so zu fassen und das war ja ihre Frage - daß im Ergebnis wir halt nichts mehr zu tun haben und uns vor die Glotze hauen und Bier saufen..., also in die Konsumgesellschaft entlassen werden. Die wirklich befreiende Möglichkeit gilt für den kulturellen Bereich. Es ist eine uralte, aber vernachlässigte Diskussion, was eigentlich das kulturelle Programm ist, das wir anbieten in der Zeit, die von der Erwerbsarbeit befreit ist. Da sage ich zwei Stichworte: Zunächst einmal das große Thema Weiterbildung, und das zweite ist die Befähigung zur Solidarität. Denn sowohl im Arbeitsprozeß mit den Stichworten Arbeitsteilung und Rationalisierung als auch in der Lebensgestaltung hat unsere Gesellschaft einen enormen Schub zur Individualisierung bekommen und damit ein Tor aufgemacht, das eben auch Freiheit ohne Solidarität bedeutet. Wenn Kulturpolitik im allgemeinen einen Sinn haben soll, dann muß sie diesem Zeittrend das andere Angebot entgegensetzen: Kulturelle Angebote, die es den Leuten ermöglichen, eigenverantwortlich zu leben in Solidarität mit anderen. Dem Schub zur falsch verstandenen Individualisierung muß sie entgegenwirken.

Im Mittelpunkt Ihrer Argumentation steht der sehr viel ausgeprägtere Individualismus heute, die sehr viel stärker auseinandergehenden individuellen Lebensentwürfe als noch vor 30 Jahren. Wie wollen Sie andererseits die Industrie dazu zwingen ökologisch umzubauen?

Der ökologische Umbau ist ein schwieriger Prozeß, solange traditionelles Denken noch sehr stark verankert ist. Auch bei Leuten übrigens, die für sich in Anspruch nehmen ökologisch zu denken. Wenn man genau hinhört, wenn über Wirtschafts- oder Verkehrsfragen geredet wird, dann bewegen sich die Leute in alten Denkmustern. Ich habe kein Patentrezept. Aber für einen funktionierenden Einstieg haben wir unsere Vorschläge für eine ökonomisch und ökologisch verträgliche Steuerreform. Wir haben von 1974 bis heute dasselbe Energieverbrauchsniveau. Das ist enorm im Vergleich zu früheren Verhaltensweisen, und das ist über den Preis gelaufen. Die Steuern beeinflussen auch den Preis. Die Explosion der Ölpreise hat vor allem zur Enkoppelung von Energieverbrauch und Zuwachs des Sozialprodukts geführt. Ein Einstieg in den ökologischen Umbau bei uns wäre eine wirkliche Steuerreform, die mit den Steuerreformen Reagans, Thatchers oder jetzt auch der Bundesregierung wenig gemein hätte. Neue ökologische Ansätze in der Steuerpolitik sind ein Einstieg, der marktkonform gestaltbar ist. Er bläht nicht die Bürokratie mit unendlichen Geboten und Verboten auf, sondern es wird einfach über den Preis gesteuert. Das zweite ist natürlich der ständige Versuch, in einem wie es so schön heißt diskursiven Prozeß verantwortliches Verhalten des Einzelnen zu ermöglichen und über die normativen Vereinbarungen unsere Gesellschaft zu steuern. Diese beiden Antworten sind für Ungeduldige nicht ausreichend. Ich weiß keine andere, sofern ich nicht die Ökodiktatur ausrufe.

Peter Glotz hat Sie ja gegenüber den Traditionslinken in Ihrer Partei verteidigt, indem er sagte, wenn wir die Mehrheit im Bundestag haben, dann haben wir noch nicht die Macht. Das heißt, wir müssen uns in gewisser Weise mit dem abfinden, was ist. Fragen wir doch weiter: Wie würden Sie dann Ihr Verhältnis zum Markt definieren?

Die traditionelle Linke will immer alles dem Staat aufbürden. Das ist ja, wenn man wirklich philosophisch oder grundsätzlich denkt, gar nicht möglich. Der Staat ist in dem Sinne nicht zur Verantwortung befähigt oder zur Freiheit oder zur Solidarität, sondern das ist eben immer nur der Einzelne. Deshalb muß man dort beginnen. Die zweite Frage ist, wie die Macht in der Gesellschaft verteilt ist. Ich will nicht alle Macht dem Staate geben. Das entspricht nicht meinem Verständnis von links. Ich will eine weitgehende Dezentralisierung und Demokratisierung von Macht. Im Idealfall hat jeder soviel Macht wie der andere.

Wir haben die taz zu einer Zeit gegründet, in der wir uns von dem Trauma der SPD an der Macht fast erstickt fühlten. Wie wollen Sie sich eigentlich unter den jetzt gegebenen Verhältnissen wieder zurück an die Macht gelangt, davor schützen, in einen ähnlich tödlichen Pragmatismus zu verfallen, wie wir ihn meiner Meinung nach Ende der siebzigerer Anfang der achtziger Jahre erlebten?

Die SPD muß pragmatisch sein. Programm und Machbarkeit dürfen nicht zwei verschiedene Welten sein. Und die SPD muß Phantasie haben, um Mittel und Wege zur Durchsetzung ihrer ihrer Ziele im Sinne der Menschen und ihrer Bedürfnisse zu finden.

Aber es geht doch auch um eine Dynamik. Ende der sechziger, Anfang der siebziger Jahre gab es einen gewissen Aufbruch, Willi Brandts „mehr Demokratie wagen“ etc., und er scheiterte sehr schnell und kläglich. Erst kamen die Berufsverbote und schließlich der Deutsche Herbst 1977.

Das mit den Berufsverboten haben wir korrigiert. Willi Brandts Reformpolitik hat die Republik verändert. Ich muß den Freiheitsgrad einer Gesellschaft, wenn ich ihn beurteile, auch immer konfrontieren mit alternativen Gesellschaften, die ich kenne. Wir haben früher mal die Utopie einer Gesellschaft frei von Angst gehabt. Das ist natürlich vom Standpunkt der Psychologie aus völlig unmöglich. Es gibt keine Gesellschaft, keine menschliche Existenz, frei von Angst. Was es aber gibt, ist die Befähigung zu entwickeln, sich der menschlichen Natur und der zu ihr gehörenden Ängste bewußt zu sein und damit, durchaus selbstbewußt, zu leben. Der demokratische Sozialismus ist der alle betreffende Versuch, die Gesellschaft zu demokratisieren. Dieser Versuch unterscheidet sich von allen konservativen Politikmodellen dadurch, daß er dies auch für den Produktionsprozeß reklamiert.

Es geht immer darum, ob die SPD Sie zum Kanzlerkandidaten macht. Man kann ja auch mal umgekehrt fragen, wie muß die SPD eigentlich sein, damit es Ihnen Spaß macht, Kanzlerkandidat zu werden?

Spaß muß sein. Richtig. Aber den hatten Sie ja schon mit dieser Frage. auch mir macht es Spaß zu erleben, mit welchen Tricks man immer wieder versucht, uns zum gackern über ungelegte Eier zu bringen.

Das Gespräch führten Uli Kuhlke und Max Thomas Mehr