„Der Mann ist doch dumm“

■ Die Olympia-Funktionäre wollen aus dem Doping-Skandal einen Einzelfall machen / Aus Seoul Herr Thömmes

Seit Dienstag vormittag ist der Skandal in Seoul perfekt. Mit dem positiven Doping-Testergebnis bei Ben Johnson hat es einen ganz Großen erwischt und die Drogenfrage im Hochleistungssport wieder in den Mittelpunkt der Debatte gerückt. Für die Funktionäre ist bereits jetzt alles klar: Johnson ist ein Einzelfall, und noch schärfere Kontrollen sollen künftig vor der Doping-Versuchung abschrecken. Ohne Doping aber, so die Athleten, ist in der Weltspitze nichts mehr zu gewinnen.

„Das ist eine Schande für Kanada. Er ist ein Idiot. Ich kann eigentlich gar nicht glauben, daß er es getan hat. Ich dachte immer, daß kanadische Kontrollsystem sei streng genug, um so etwas zu verhindern.“ Die Äußerung des kanadischen Ruderers John Ossowski ist symptomatisch für das Team mit dem Ahornblatt. Gestern noch der Held der Nation ist Ben Johnson über Nacht zur Unperson geworden.

Nur fünf Sätze verliest die IOC- Sprecherin Michele Verdier am Dienstag morgen um 10 Uhr auf einer eiligst einberufenen Pressekonferenz. Es ist die Empfehlung der medizinischen Kommission an das höchste IOC-Gremium (Exekutiv-Komitee), die dieses eine dreiviertel Stunde zuvor einstimmig angenommen hat. „Die Urinprobe von Ben Johnson (Kanada -Leichtathletik-100 m) vom Samstag, 24.9.1988, enthielt eine verbotene Substanz namens Stanozolol (ananoles Steroid)“, heißt es da, und die Vermutung der kanadischen Delegation, das Mittel sei dem Sprinter nach dem Rennen von Dritten untergeschoben worden, würde mit dem „steroiden Profil nicht übereinstimmen“. Und: „Der Sportler wird von den 24. Olympischen Spielen in Seoul ausgeschlossen.“

Um diese Zeit, als die 700 Reporter den Ablauf des Skandals noch zu rekonstruieren versuchen, sitzt Ben Johnson mit seinem Trainer Charly Francis bereits in einem Flugzeug der Korean Airlines nach New York. Nachts um 3.30 hatte er nach einer Besprechung mit Trainer und Mutter Gloria der kanadischen Delegationsleiterin Carol Anne Letheren seine Goldmedaille zurückgegeben.

Das Ergebnis der A-Analyse war dem Vorsitzenden der medizinischen Kommission, Alexander de Merode, in der Nacht zum Montag mitgeteilt worden; es löste hektische Betriebsamkeit aus: 1.45 Uhr: Brief an das NOK-Kanada; 7.00: Information von Trainer Francis und Leichtathletik-Chef Dave Lions; 10.00 Uhr: Treffen der Kanadier mit den IOC -Medizinern, Öffnung der B-Probe von Johnsons Urin; 13.30, die Kanadier gehen ins Olympische Dorf zurück und beraten dort; um 20.00 Uhr steht fest, daß die B-Analyse das erste Ergebnis bestätigt; 22.00, die IOC-Mediziner geben ihre Empfehlung ab.

Spätestens danach wußte Johnson, daß es für ihn keine Chance mehr gab: Das Exekutiv-Komitee würde ihn ausschließen, und gegen dessen Entscheidung gibt es keine Möglichkeit des Einspruchs. Wenig später sperrte der Internationale Leichtathletik Verband (IAAF) den Läufer für zwei Jahre. Die Kanadier setzen noch eins drauf: Aufgrund eines Anti-Doping Gesetzes wird Johnson auf Lebenszeit aus der Nationalmannschaft ausgesperrt.

Lebenslänglich oder

Begnadigung?

Für die olympische Funktionärsgilde geht es vor allem darum, Johnson zum Einzeltäter zu erklären. Willi Daume, Präsident des bundesdeutschen Olympischen Komitees, empört sich in einem Interview mit dpa über Stimmen, die in dem „rasenden Muskelberg“ nur die Spitze des Eisbergs sehen: „Wie kann man solche Behauptungen aufstellen? Das ist einfach nicht wahr. Es ist doch bekannt, daß Johnson dumm ist. Er ist vielleicht der verführte, der seinem Umfeld blind vertraut hat. Nun aber deswegen den gesamten Sport zu diskreditieren, ist ungerecht und völlig überzogen. Wenn Nixon als Präsident der USA schlimmste und kriminelle Dinge macht, dann kann man auch nicht die gesamte amerikanische Demokratie in Frage stellen.“ Ins selbe Horn stieß auch Olympias Oberguru Antonio Samaranch: Das sei zwar ein harter Schlag für die olympische Bewegung, zeige aber gleichzeitig auch, wie wirkungsvoll die Dopingkontrollen mittlerweile geworden seien. Zweifel an dieser Einschätzung meldete der eigentliche Gewinner des Skandals, Carl Lewis, an. Bereits einen Tag, bevor die Anabolikaspuren bei Johnson amtlich nachgewiesen waren, hatte er sich als ausgewiesener Kenner der Szene offenbart. Statt den Urin, so Lewis, sollten lieber Blutproben entnommen werden. Dann wäre eine Manipulation praktisch ausgeschlossen. Was Lewis bewegt, hat Johnson in der Vergangenheit offenbar wenig Kopfzerbrechen gemacht. Stellvertretend für viele meint Kanadas IOC -Mitglied Jim Worral, Johnson sei wohl eher ein Opfer seines Trainers geworden. „Ben ist nicht der Typ, der ein Trainingsprogramm mit abgestimmter Einnahme von Drogen entwickelt haben könnte. Er ist Mitglied einer Gruppe, die in fast diktatorischer Weise von Trainer Francis geleitet wird.“

Diese Entschuldigung wollen andere Athleten allerdings nicht gelten lassen. Schließlich, so der ehemalige Zehnkampf -Olympiasieger Daley Thompson, „ist es doch Ben, der seinen nackten Arsch hinhält, wenn da eine Spritze reinsoll“. Doch Schuld hin oder her, für den brasilianischen Trainer Alberto de Oliveira geht es vor allem um die Ausschaltung unlauterer Konkurrenz: „Endlich haben sie einen der ganz Großen erwischt. Hoffentlich werden es noch viel mehr. Es muß endlich aufgeräumt werden, und dies war ein guter Anfang. Ben sollte nicht nur für zwei Jahre, sondern auf Lebenszeit gesperrt werden.“

Der Cheftrainer der bundesdeutschen Leichtathleten, Gerd Osenber, stimmt dem im Prinzip zu, mit einer wesentlichen Einschränkung: „Solange ernsthaft über die Begnadigung von Terroristen diskutiert wird, bin ich nicht für lebenslange Sperren.“