RENOVIERUNG DES NEUEN WESTENS

■ Das „Industriegebiet der Intelligenz“ im Literaturhaus

I.

'Westwärts!‘, war gegen Ende des letzten Jahrhunderts in Berlin die Parole, und so konnte Literaturhauschef Herbert Wiesner die Ausstellung und Veranstaltungsreihe zur „Literatur im Neuen Berliner Westen der zwanziger und dreißiger Jahre bis zu Vertreibung und Exil„ am Sonntag mit dem kleinen Scherzwort eröffnen, die Fluchtbewegung nach Westen sei in Berlin schon älter als die Mauer. Als Kulturstadt Europas - der Titel hat den Senat zur Finanzierung der Ausstellung gebracht - nimmt Berlin aber auch gerne Ostflüchtlinge in Kauf, nämlich wenn sie aus dem Westen als Kultursucher in die Stadt kommen, etwa um das Industriegebiet der Intelligenz zu sondieren und sich in der Kulturstadt umzutun, sei es nun mit Geldbörse und im Räuberzivil oder mit Gummiknüppel und in Gendarmengrün.

Jedenfalls ist das Literatur-Industriegebiet des Neuen Westens ein erstklassiges und vorzeigbares Kulturphänomen, das sich ohne weiteres im eher nach vorindustrieller Idylle aussehenden Haus in der Fasanenstraße unterbringen läßt, weil sein nichtkultureller Schadstoffbefall, das Lärmen der Hirnmaschinen und das Rauchen der Phantasieschlote nun verringert wurde und zulässige Grenzwerte für Kulturereignisse nicht wesentlich überschritten werden. Das Industriegebiet ist eines von der gezähmten und auch kulturstadtökologisch unbedenklichen Sorte; wo die Intelligenz schon einmal ins industrielle Produzieren geraten ist, da entstehen - wie das der beliebte Blick von heute auf die kulturelle Blüte der Zwanziger sieht vorzeigbare Werte, und das Industriegebiet, mit dem Joseph Roth so viele Giftstoffe assoziierte, höhlt sich zur schönen Metapher aus.

II.

Der Neue Westen selbst war schon unangreifbar genug, als sich die Bürgerwelt eine neue Adresse suchte und diesen Kontinent in Berlin eroberte. Er umfaßte - so steht es auch im Vestibül des Literaturhauses aus 'Griebens Reiseführer Berlin' von 1927 - „die Grenzgebiete der Stadtgemeinden Charlottenburg, Wilmersdorf und Schöneberg, westlich des Lützow- und Nollendorfplatzes und südlich der Stadtbahn Zoologischer Garten-Halensee“, war aber nicht scharf umrissen, wie es sich für künftige Mythengelände gehört. Was mit dem Namen Neuer Westen entstand, war ein Laboratorium fürs Experimentieren mit dem Gebräu aus Geist, Geld- und Geltungssucht, und weil die Neue Sachlichkeit gegen Selbstheroisierung nicht viel einzuwenden hatte, erhielt die Kulturproduktion, die sich nahe den Abnehmern im Neuen Westen einquartiert hatte, mit der Industrie die Attribute von Schweiß, Schmutz und Schwerarbeit rhetorisch zugesprochen.

Der Neue Westen war aber ein sauberer Flecken Großstadt, soweit das dem Bürgertum jedenfalls möglich war; daß seine Gegend heute das Geruchskonzentrat der Kultur ausströmt, ließe die damaligen Neubürger sich verwundert die Augen reiben, die ihre eigene Industrie im Sinn hatten und auf die Intelligenz eher pfiffen. Deren Adressenliste im Neuen Westen, gleich gegenüber der Eingangstür zum Foyer des Literaturhauses, ist erstaunlich lang. Die Liste derer, die im Neuen Westen wohnten, ohne Kulturfälle geworden zu sein, würde nicht ins Literaturhaus passen. Deshalb ist sie nicht zu sehen und der Neue Westen, als Industriegebiet der Intelligenz angesehen, ein Mythos. Daran können sich die adretten Nachwuchsbürger, die im immergleichneuen Westen um die Fasanenstraße herum wohnen, vornehmlich freuen. Ein blitzsauberes Industriegebiet, wo nichts außer Phantasie, Einfällen und Kultur entstand, offenbar seit jeher. Man ist doch wer. Was die Ausstellung aus lauter Besessenheit für die Phantasmagorien der Kultur ausblendet, kann Kulturmenschen von heute nicht mehr stören.

III.

Mythen sind diffus, ihre Ausstellung kommt daran, andererseits glücklicherweise, nicht vorbei. Allerlei rückt nahe zusammen und oszilliert. Kästner hielt den Sittenrichtern seines Romans 'Fabian‘, der nackte Tatsachen in Worte kleidete, entgegen, Moralisten zu sein. Vicki Baum hielt sich, wie viele sportende Zeitgenossen, an Boxunterricht und steht auf einem Photo in Pose vor dem Punching-Ball. Brecht liebte Steyr-Automobile und schrieb Motortakt-Hymnen auf ihr Getriebe. Abgebildet ist leider keines, aber der Hymnus 'Siegender Wagen' in der Auto und Sportabteilung groß auf Leinen gedruckt. Tempo und Sport waren für die Industrieintelligenzler unverzichtbar, und zum allgemeinen Vergnügen arbeiteten die Kolbenensembles der Girls auf den Revuebühnen wenigstens mit 24 PS. Später nähten sie in gleichem Takt Hakenkreuzfahnen, wie in der Abteilung 'Das Ornament der Masse' zu sehen. Die Zeit war eben voll sportlichen Tempos, auch darin, sich selbst zu überholen und hinter sich zurückzubleiben. Fortbewegungsmittel, die hinter dem Zeittempo abfielen, kamen nicht in Betracht.

Georg Kaiser erklärte das Fahrrad schlicht zum 'Konterrevolutionär‘. Robert Musil, gleich um die Ecke des Literaturhauses am 'Mann ohne Eigenschaften‘ laborierend, zog der Theologie den Sport vor, auch an Erkenntniswert. Er hatte der Zeit ohnehin attestiert, Rennpferde für 'genial‘ zu halten, wohl weil sie Sport und Tempo verbanden, wenn auch mit geringerer PS-Zahl als Girls. Im fahrenden Auto wurde Rathenau aus dem fahrenden Auto erschossen - in der Abteilung 'Der Weg nach unten‘ liegt das Photo vom Tatort im Grunewald vor. Alles in voller Bewegung und unaufhaltsam, Walter Serner wurde per Güterzug nach Theresienstadt deportiert, wo er für immer verschwand neben zwei Photos und Briefen Serners finden sich Dokumente dieser Reise in der Ausstellung. Wahrscheinlich war in dieser Bewegungsrauschzeit der 'Blitzkrieg‘ das heimlich drohende Ziel. Tausend Details springen in der Ausstellung zusammen, wie in richtigen Industriegebieten, die wüste Ansammlungen sind. Holen kann sich jeder, was er zu seinem Zeitbild braucht, und sei es auch, um die Mythen der Zeit ein wenig anzukratzen.

IV.

Oft sind Literaturausstellungen von Sterilität bedroht: Das Dichterporträt grimmassiert vergebens neben biographischen Datentafeln, und seufzend sind Erstausgaben-Buchleiber in Vitrinensärge gesunken, von wo sie leblos grüßen. Auch im Literaturhaus stehen Vitrinen mit Manuskriptblättern und Buchkadavern. Aber die Ausstellung ist vor allem in die Räume hineingedacht. Durch zwei Stockwerke läuft sie, und überall sind Texte auf Tücher vergrößert, die sich wie Mullbinden oder Segel über Decken und Wände ziehen, so daß die Räume gelesen werden, statt daß die Blicke in Vitrinenschreine fallen und dort verenden. Stücke von Hessel, Blei oder Benn durchspannen das Treppenhaus, nur lesend ist der Weg in den ersten Stock glücklich zu bewältigen, doch wer liest, kommt dort vielleicht nie an. Ankommende finden in einer Nische schließlich eine Raststätte für die Augen und können sich vom Walkman mit den wenigen Stimmen der Intelligenz versorgen lassen, die aus den Pionierzeiten des Rundfunks übrigblieben. Am Zeitungsständer des Cafes hängen einige Tageszeitungen aus den Zwanzigern neben denen von heute, von den Wänden schaut das Romanische Cafe der Lektüre der 'Vossischen Zeitung‘ zu.

In diesem versuchsweisen Gesamtkunstwerk sind die Inventarschablonen der literarischen Zeit versammelt; Postneuwestberliner basteln aber mit Vorliebe kombinierend an solchen Geschichtsschablonen herum und finden hier ein richtiges Spielkombinat vor. Nur wenn im Foyer die Augen über Leinwandpoesien wie den Vers „Wir sind versehnt nach Reizen unbekannter Art“ wandern, treten die Füße auf den Neuen Westen, dessen Stadtplan den Boden bedeckt. Das mögen Raumaper?us sein, doch besser sie, als sonstiges Literaturausstellungseinerlei.

I.

'Der Weg nach unten‘: Goebbels geifert im 'Angriff‘ als drittklassiger Feuilletonist gegen die Kulturblüten der „Asphaltdemokratie“, Walter Mehring höhnt über die „Thingdichtung“ in „Deutschstland“, Heinrich Mann schreibt lakonisch in seinen Kalender „Abreise“. Ob kunstseiden, sportlich, neusachlich oder automobilisiert: der Mythos des Neuen Westens zerfiel langsam in den Mythos des 20. Jahrhunderts. Jenseits von diesem kehrt er renoviert im altgewordenen Neuen Westen, der sich immer noch neu fühlt, wieder als die Dekoration einer Kulturstadt, die sich gerne die Phantasie an die Biedermannjoppen der Macht steckt.

Der Mythos des Neuen Westens ist für die Literaturhaus -Ausstellung zu groß, selbst in der zum Lunapark der Kultur arrangierten Form, von der am Ende unklar bleibt, woher die Nazis kamen, um die Glanzlichter auszulöschen. Schön bunt war's, aufregend und auch recht pluralistisch, genug jedenfalls, um von diesem Mythos jederzeit mit Atmosphäre versorgt zu werden, wie sie die Hochkonjunktur heutiger Kulturindustriegebiete benötigt. Mythen lassen sich vor allem feiern, zerlegen nur sehr schwer. Ein Industriegebiet, und sei's der Intelligenz, ist als Mythos allein widersinnig. Wo standen die Produktionsanlagen, Maschinenhäuser und Triebwerke dieses Industriegebiets? Vielleicht schlagen die Vorträge und Lesungen bis Ende Oktober die Wege zum Kraftzentrum ein.

Uwe Pralle

DIe Ausstellung ist bis zum 30. Oktober täglich, außer montags, von 11-18 Uhr geöffnet. Am Freitag, 20 Uhr: „Walter Benjamins Blauer Chinese: Franz Hessel“, vorgestellt und vorgetragen von Yaak Karsunke. Am Sonntag, 20 Uhr: „Linksseitig kunstseidig - Dame, Girl und Frau“, Vortrag von Ursula Krechel. Literaturhaus, Fasanenstraße 23, 1-15.