Ängstliche Bewunderung

„Die Seminare, die vor zehn Jahren im Goddard -Raumflugzentrum in den USA abgehalten wurden“, sagt Genevieve Debouzy von der französischen Raumfahrtbehörde, „finden heute in Moskau statt.“ Sie charakterisiert damit treffend die neue Orientierung der internationalen Weltraum -Gemeinde. Während das US-Raumfahrtprogramm schon vor dem Challenger-Desaster niemanden mehr vom Hocker riß und die Nation danach in tiefe Depression stürzte, breitet sich in der Sowjetunion Euphorie aus.

Anfang Juli starteten die Russen vom Weltraumbahnhof Baikonur eine Mission, die 'Nowosti'-Korrespondent Juri Kanin als „bedeutendstes Projekt in der Geschichte der Erforschung des Sonnensystems“ feiert. Die Bewunderung scheint blockübergreifend: „Eines Jules Verne würdig“ befand das amerikanische 'Time'-Magazin den ausgeklügelten Versuch, mit den beiden „Phobos„-Zwillingssonden den gleichnamigen Marsmond und den Planeten selbst zu erkunden. Die beiden fliegenden Laboratorien sollen Ende Januar 1989 die Marsumlaufbahn erreichen. Im April sollen Fotos aus nur 50 Metern Höhe zur Erde gefunkt und schließlich ein Roboter auf dem Marstrabanten abgesetzt werden. Der Apparat hüpft, wenn alles gutgeht, auf der Oberfläche umher, sammelt und analysiert insgesamt zehn Bodenproben. Das alles, schreibt Jiri Kanin, sei nur eine „Art Vorspiel“, das am Ende als „grandioses Ereignis“ der Landung von Menschen auf dem roten Planeten gekrönt werden soll.

Auch ohne das „Phobos„-Programm, an dem insgesamt 13 weitere Länder beteiligt sind, können sich die Erfolge des im Westen wegen seiner angeblichen technischen Rückständigkeit lange belächelten sowjetischen Raumfahrtprogramms sehen lassen. Nicht nur, daß die sowjetischen Kosmonauten inzwischen insgesamt 15 Jahre und damit dreimal länger als die amerikanischen Kontrahenten um die Erde rotierten. 1986 verzeichneten die Sowjets 91 Weltraumstarts, davon 90 erfolgreich. Die Amerikaner brachten es auf ganze neun Versuche. Nur sechs Trabanten erreichten die Umlaufbahn. Wichtiger - und im Westen mit ängstlicher Bewunderung verfolgt - scheint eine Entwicklung auf dem Gebiet der Trägersysteme. Mit der gewaltigen „Energija„-Rakete, die erstmals im Mai 1987 in den Himmel stieg, können die Sowjets Nutzlasten von über 100 Tonnen zum Vergleich: der „Shuttle“ schafft gerade 30 - auf einmal in eine erdnahe Bahn hieven, 32 Tonnen auf den Mond und 28 Tonnen auf Mars oder Venus. Mit dem Trumm, das zu großen Teilen wiederverwendbar ist, wollen die Sowjets viel Material ins All transportieren. Zunächst zum Bau größerer Raumstationen, die das enge Raumlabor „MIR“ ersetzen sollen. „Wir werden da draußen bald große Stationen bauen können, die nicht Dutzende von Metern, sondern Kilometer im Durchmesser haben werden“, schwärmt ein führender sowjetischer Raumfahrtfunktionär. Dort sollen die Kosmonauten im Wortsinne leben, arbeiten, industriell produzieren und zu anderen Planeten aufbrechen. Die Konstruktionen sollen als Produktionsstätten und als Basen für Flüge zu andern Planeten.

Mit der „Energija„-Rakete wollen die Russen auch ihre erste wiederverwendbare Raumfähre ins All tragen. Als „Tagesaufgabe“ bezeichnete es „Energija„-Chefkonstrukteur Gubanow vor wenigen Wochen in der 'Prawda‘, „die automatische Landung des Orbitalschiffes“ zu gewährleisten. Wenn Informationen aus Moskau zutreffen, daß die Raumfähre „SL-X-18 Energija“ in Baikonur bereits auf der Abschußrampe steht, könnte es in den kommenden Tagen zu einem Simultanstart mit dem amerikanischen „Shuttle“ kommen.

Angesichts der neuen Rangordnung im Weltall sind es in letzter Zeit immer wieder die Russen, die der anderen Supermacht Zusammenarbeit anbietet. Doch die freundlichen Einladungen kommen auf der anderen Seite des Atlantiks bisher gar nicht gut an. In Wirklichkeit gehe es den Sowjets nicht um Zusammenarbeit, sondern um einen eleganten Zugriff auf neueste Entwicklungen amerikanischer Elektronik. Das im vergangenen Jahr von Moskau medienwirksam vorgetragene Angebot, amerikanische Satelliten angesichts der „Shuttle„ -Misere von Baikonur aus auf den Weg zu bringen, nannten amerikanische Zeitschriften demütigend. Entsprechend schroff wies Washington solches Ansinnen zurück: Das sowjetische Raumfahrtprogramm sei zu 75 Prozent militärisch inspiriert, man wolle sich die High-Tech-Trabanten made in USA wohl nur mal genau ansehen.

Die vielen erfolgreichen Starts der Sowjets seien kein Beweis für die Überlegenheit ihrer Technik, maulen amerikanische Experten, sondern die Folge der kurzen Lebensdauer russischer Späh-Satelliten. In der Tat: Es scheint einfacher, einen Roboter über Phobos hüpfen zu lassen, als einen ordinären Satelliten (siehe Cosmos-1900) am Himmel zu haben.

Gerd Rosenkranz