Der Mensch: eine Bestie

■ Ein weiterer Höhepunkt im 1. Polit-Theater-Festival mit einer Theatergruppe aussem Ruhrpott: Das Theater Kohlenpott, Herne, inszenierte "Oui" von Gabriel Arout

Die Bühne: ein einfaches Podest, angedeutete Mauern, ein Stuhl, eine Schüssel. Der Ort: Ein Gefängnis in Frankreich 1944. Am Abend vor ihrer Hinrichtung werden zwei Männer zusammen in eine Zelle gesperrt. Der ehemalige SA-Mann Max und der jüdische Schneider Raphael. Sie belauern sich in der Dunkelheit, sie fallen übereinander her, sie entdecken im folgenden Gespräch die Absicht ihrer Wärter: Jedem der beiden wurde das Leben versprochen, wenn es ihm gelänge, den anderen umzubringen. In der Zelle befindet sich ein Messer. Die Häftlinge beginnen einen Tanz um die Waffe, bis das Mißtrauen allmählich dem Wunsch nach Nähe weicht und die beiden beschließen, ihren unsichtbaren Beobachtern nicht das erwartete Schauspiel zu bieten.

Statt sich gegenseitig zu zerfleischen, fangen sie an, voneinander zu erzählen. Raphael, der französische Herrenschneider, entpuppt sich als komischer Kauz mit vielen Frauengeschichten, Max, der zum Herrenmenschen erzogene Preuße, verrät die Brüche seiner Biografie. Er war nicht

nur Anhänger der falschen Nazi-Fraktion, er war auch als Student in eine jüdische Kommilitonin verliebt. Die Spannung zwischen den Häftlingen löst sich, als der neue Tag anbricht, überfällt sie Todesangst. Raphael verliert die Beherrschung und windet sich am Boden, Max kommt ihm zuhilfe.

Mit dieser Geste der Solidarität läßt Regisseur Rüdiger Brans das in den 6Oer Jahren geschriebene Stück des in Frankreich lebenden georgischen Juden Gabriel Arout enden. „Oui“ ist eine Produktion des Theater Kohlenpott, Herne, das mit diesem Stück im Dezember 1986 seine neue Spielstätte in einer zum Kulturhaus umgebauten Fabrik eröffnete. Ist „Oui“ eine große Entdeckung? Ich glaube es nicht. Arout will die Wirkung von Stereotypen und Vorurteilen und deren mögliche Auflösung durch reale Begegnung zwischen „wirklichen“ Menschen demonstrieren. Aber die Fabel, die er erfindet, ist so konstruiert, daß die Veränderung, die den Häftlingen widerfährt, selbst zum Klischee zu werden droht, und die Dialoge über eine Sammlung allgemeiner Le

bensweisheiten nicht hinauskommen.

„Der Mensch ist eine seltsame Bestie“, sagt Max. Raphael antwortet: „Dennoch kann er im tiefsten Elend, im letzten Augenblick, allein, alles verwandeln“. Das ist der Grundgedanke des Stücks von Arout. Rüdiger Brans macht daraus ein sorgfältig inszeniertes Kammerspiel, das den Darstellern Ingo Naujoks (Max) und Joe Bausch (Raphael) die Chance gibt, ihre Figuren mehr sein zu lassen als papierne Ausdrucksträger einer schönen Idee. Sie wollen das Wechselbad der Gefühle, dem die zum Tode Verurteilen ausgesetzt sind, sichtbar und nachfühlbar machen. Und das gelingt ihnen erstaunlich gut. Es sind die stimmig vorgeführten Details, mit dem sie Arouts Dramatisierung eines Theorems Leben einhauchen: Der Kampf um Zigarette und Feuer, das gemeinsame Rauchen, die schreckliche Nazi-Hymne, deren „unschuldige Melodie“ beide am Ende vor sich hinpfeiffen.

hans happel

weitere Vorstellungen: 30.9, 1.10, 11 und 20 Uhr, Packhaus