Lektionen zur Schuldenkrise

■ TeilnehmerInnen eines Berliner Workcamps beschäftigen sich mit IWF und Weltbank - und landen zuweilen auf einer Polizeiwache

Von Christine Mattauch

Berlin (taz) - „Wer hat denn den Text zur ökonomischen Geschichte von Brasilien gelesen?“ fragt Caroline. Keiner hat. „Wer hat denn den Text zur jüngeren ökonomischen Entwicklung gelesen?“ Schweigen. Schließlich meldet sich Martin. Er habe den Text angefangen, aber der sei so lang und kompliziert gewesen. Caroline ist sauer. „Ich weiß auch nicht, wie wir jetzt weitermachen sollen, wenn keiner die Texte gelesen hat.“ Schweigen. Schließlich schlägt Caroline vor, ein paar Seiten aus einem Buch über Brasilien vorzulesen.

Man sitzt nicht etwa in der Schule. Die Szene spielt im Berliner Workcamp in der Nehringstraße. Die Ähnlichkeit zum Schulunterricht ist dennoch frappant; die SchülerInnen beziehungsweise TeilnehmerInnen lassen sich gern alles vorsetzen, beklagt die Lehrerin beziehungsweise Leiterin Caroline, 27 Jahre, über mangelnde Beteiligung. Allerdings hat sie Verständnis. „Die Leute sind abends oft zu müde, um sich großartig mit Theorie zu befassen“, sagt sie, „die Arbeit tagsüber schlaucht zu sehr.“ Das Workcamp setzt sich nämlich aus zwei Teilen zusammen: Im praktischen Teil renovieren die TeilnehmerInnen ein ehemals besetztes Haus. Am späten Nachmittag, im theoretischen Part beschäftigen sie sich mit IWF und Weltbank. Schwerpunktmäßig wird die Situation einzelner Länder behandelt, außerdem haben sich die TeilnehmerInnen auf dem Gegenkongreß informiert und an zahlreichen Gegenaktionen beteiligt. Die Erfahrungen mit der Polizei waren dabei nicht die besten: „Jeden Tag sind Leute von uns abgegriffen worden“, berichtet Caroline, „die waren plötzlich eingekesselt und mußten die Nacht auf der Wache verbringen.“

Bei der theoretischen Auseinandersetzung mit der Schuldenkrise sei keine politische Linie vorgegeben, sagt Caroline, aber sie hätten schon „einen kritischen Ansatz“: „Wir zeigen die Auswirkungen der IWF-Politik auf die Bevölkerung, und wie zum Beispiel durch Weltbank -Großprojekte die Umwelt zerstört wird.“ Kollegin Nicola umreißt dann doch den politischen Rahmen: „IWF und Weltbank sind Instrumente der Industrienationen“. Und: „Daß es so wie bisher nicht weitergehen kann, ist wohl allen klar.“

Sechs Männer und 13 Frauen nehmen an dem Camp teil. Vier kommen aus der Bundesrepublik, die anderen aus Italien, den USA, Österreich, Finnland, Dänemark, Großbritannien und Spanien, und eine Jugoslawin ist auch dabei. Die Camp -Sprache ist Englisch. Einige TeilnehmerInnen haben sich schon vor dem Camp mit IWF und Weltbank auseinandergesetzt, andere kaum.

Dem dunkelhaarigen Chris, der aus Worchester kommt, ist das Thema nicht neu. Er arbeitet bei Oxfam mit, einer Hilfsorganisation für Entwicklungsländer. „Ich bin sehr an Aktionen gegen die IWF-Politik interessiert“, sagt er. Heute vormittag bearbeitet er mit Hammer und Meißel eine Wand. Seine Haare, sein Pullover, seine Hose, seine Schuhe - alles ist mit Staub bedeckt.

Die Italienerin Daniela, 21 Jahre, sitzt im Treppenhaus, in der Hand einen Gasbrenner. Sie will eine Wand entlacken. Daniela erklärt, daß sie durch ihr Wirtschaftsstudium auf das Thema gestoßen ist. „Da fühlte ich mich aber sehr einseitig informiert. In dem Camp wird mir eine andere Sichtweise vermittelt.“ Vesna, die Jugoslawin, sitzt in der Mittagspause im Aufenthaltsraum und schreibt Karten. Sie hat sich bislang kaum mit den Institutionen befaßt, und sie sagt offen, daß sie Berlin viel spannender findet als den IWF.

Veranstaltet wird das Workcamp vom Service Civil International (SCI), einer Freiwilligenorganisation mit Sitz in Bonn. Diese Organisation bietet alljährlich Workcamps in europäischen und außereuropäischen Ländern an, über 350 sind es in diesem Jahr. Die Teilnehmer arbeiten in der Regel bei einem Projekt und bekommen dafür freie Kost und Logis. Die Arbeit steht normalerweise in Bezug zu dem theoretischen Part - wird etwa ein Kulturzentrum renoviert, so steht die Beschäftigung mit alternativer Kultur auf dem Studien -Programm, arbeitet man auf einem Bio-Bauernhof, so heißt das Thema Ökologie.

In welchem Zusammenhang stehen denn Hausrenovierung und IWF? „Na ja, in keinem“, räumt Caroline ein. Sie hätten eben erst die Idee mit dem Haus gehabt und dann die mit IWF. Aber das habe keine Auswirkungen auf die Motivation der Leute, „die sind alle unheimlich engagiert“.

Wenn sie nicht gerade müde sind. Martin stützt den Kopf auf und schließt die Augen, während Caroline liest. Es geht um einen brasilianischen Arbeiter. „Wenn er nur fünf Minuten zu spät zur Arbeit kommt, verliert er den Lohn eines ganzen Tages...“ Daniela knabbert an ihrem Zeigefinger. „Seine älteste Tochter hat den ganzen Tag Arbeit gesucht und keine gefunden...“ Chris verschränkt die Arme. „Er hat Angst, daß sie ihren Körper verkaufen muß...“ Rosemary zündet sich eine Zigarette an.

Caroline ist fertig. Chris richtet sich auf: „Aber das ist nicht der IWF.“ Caroline runzelt die Stirn. „Wie meinst du das?“ „Hier geht es um einen einzelnen, der IWF sieht die Ökonomie aber als großes Ganzes.“ „Ja, das ist es ja, sie achten bei ihrer Politik nicht auf den einzelnen Menschen!“ ereifert sich Rosemary. Die Diskussion kommt in Gang. Caroline atmet auf.