Juden in den USA: Die Allianz mit Israel bröckelt

Als Reaktion auf das brutale Vorgehen der israelischen Regierung gegen den Aufstand der Palästinenser in den besetzten Gebieten, wächst die Zahl der jüdischen Israel-Kritiker in den USA / Schweigen widerspricht „unserer moralischen Verpflichtung“  ■  Von Edmund Hanauer

Die Ereignisse am Gaza-Streifen und im Westjordanland werden unter US-amerikanischen Juden heftig diskutiert. Ist das Vorgehen Israels falsch? Wenn ja, dürfen Juden Israel kritisieren? Und wenn es berechtigte Kritik gibt, sollte sie dann nur im Kreis von Juden oder auch in der „Öffentlichkeit“ vorgebracht werden?

Daß Juden das Verhalten Israels gegenüber den Arabern kritisieren, ist nichts Neues; das gab es schon vor der Schaffung des Staates Israel im Jahre 1948. Hannah Arendt, Albert Einstein und Martin Buber gehörten zu denen, die in Palästina lieber Aussöhnung und einen Zwei-Nationen-Staat gesehen hätten als Teilung und Bürgerkrieg.

In den späten siebziger Jahren nahm die Kritik US -amerikanischer Juden an der Politik Israels zu, da der eher zu den Falken rechnende Ministerpräsident Menachem Begin weniger am Frieden interessiert schien als Ägyptens Anwar Sadat. Nach der israelischen Invasion in den Libanon von 1982 ließen Hunderte von Juden, darunter auch Rabbiner, in den Zeitungen Erklärungen veröffentlichen, die Überschriften trugen wie „Wir können nicht schweigen“ oder „Menachem Begin spricht nicht für uns“.

Ähnliche Anzeigen erschienen als Reaktion auf den Aufstand der Palästinenser, der im Dezember 1987 begann. Eine im April in der 'New York Times‘ veröffentlichte und von der Gruppe „Jews Opposed to the Occupation“ finanzierte Anzeige trug die Unterschrift von nahezu 1.000 Juden. Sie wiesen auf das brutale Vorgehen der israelischen Regierung hin und erklärten, sie seien „entsetzt über das Töten und Verstümmeln von Menschen und die Zerstörung, die mit politischer Unterstützung und militärischer Hilfe der Vereinigten Staaten geschieht“. Sie forderten die USA auf, jede Unterstützung für die Besatzungspolitik einzustellen.

Die heftigste Kritik an Israel wird von jüdischen Intellektuellen vorgebracht und von Juden, die in der Friedens- und Bürgerrechtsbewegung oder in feministischen und fortschrittlichen Gruppen engagiert sind. Viele von ihnen sind der „New Jewish Agenda“ zuzurechnen, einer landesweiten Gruppe, die 1980 gegründet wurde und sich für die Schaffung eines Palästinenserstaates neben Israel einsetzt. Agenda hat über 50Ortsgruppen in den USA und Kanada und will eine „fortschrittliche Stimme innerhalb der jüdischen Gemeinde und eine jüdische Stimme innerhalb der fortschrittlichen Gemeinschaft“ sein.

Elena Levy, deren Eltern vor den Nationalsozialisten geflüchtet sind, drückt aus, was viele Mitglieder von Agenda denken: „Ich wollte meine Kritik an der Politik Irarels äußern, aber mit jüdischer Stimme und so, daß es nicht für Antisemitismus gehalten werden kann; 'Agenda‘ macht das möglich.“

Als Zeitschrift verfolgt die 1986 gegründete 'Tikkun‘ (was auf hebräisch bedeutet: die Welt in Ordnung bringen, verbessern und umgestalten) eine ähnliche Linie wie Agenda. Wie Herausgeber Nan Fink meint, können die Juden nicht länger schweigen, weil das Vorgehen Israels jüdische Grundwerte wie soziale Gerechtigkeit und das biblische Gebot der „Achtung vor dem Fremden in unserer Mitte“ verstößt. Schweigen würde „unserer moralischen Verpflichtung“ zuwiderlaufen, „uns für eine bessere Welt für alle Völker einzusetzen“.

Für Michael Lerner, Chefredakteur von 'Tikkun‘, hat die gegenwärtige Lage „die größte Krise der jüdischen Gemeinde in den USA seit dem Holocaust“ ausgelöst.

Inzwischen beschränkt sich die Kritik nicht mehr auf fortschrittliche Juden oder Linke, die nebenbei auch Juden sind. Auch ansonsten unpolitische Menschen wie der Regisseur Woody Allen melden sich zu Wort oder, was noch wichtiger ist, Einzelpersönlichkeiten und selbst Organisationen, die den Mainstream der jüdischen Gemeinden repräsentieren. Letztere sympathisieren allerdings oft mit der Labour Party, die in ihren Augen - im Gegensatz zum rechtsgerichteten Likud-Block oder der PLO - einen vernünftigen Ansatz zu einer Beilegung des Konflikts verfolgt.

Ein Teil der jüdischen Kritiker israelischer Politik unterstützen wiederum die isarelische Friedensbewegung manchmal sogar, indem sie nach Israel fahren und selbst bei den Friedensgruppen mitarbeiten.

Die Unterstützer und Verteidiger Israels bleiben jedoch auch nicht stumm. Innerhalb wie außerhalb der jüdischen Gemeinde rechtfertigen sie das Vorgehen Israels mit dem Argument, Israel bleibe nichts anderes übrig, als dem Aufstand mit Gewalt zu begegnen, und kein arabischer oder palästinensischer Politiker sei gewillt, Israel zu akzeptieren.

Andersdenkenden Juden wird vorgeworfen, daß sie ihre Glaubensgenossen verraten und die amerikanische Unterstützung für Israel unterminieren.

Ein führender Verteidiger Isarels ist seit jeder Elie Wiesel, Überlebender des Holocaust und Friedensnobelpreisträger. Er lehnt zwar „Extremlösungen“ wie eine Vertreibung der Palästinenser aus ihren Gebieten oder einen sofortigen Rückzug der Israelis ab, sieht aber offenbar keine Alternative zu dem Status quo, und das bedeutet fortdauernde Unterdrückung der Palästinenser durch Israel. Er gibt zu, daß israelische Soldaten Palästinenser mißhandelt haben; aber das, so behauptet er, waren Eigenmächtigkeiten, für die die Soldaten umgehend bestraft wurden. An der Regierungspolitik findet er nichts auszusetzen.

Wiesel ist von jüdischer Seite scharf kritisiert worden; der Friedenskämpfer Noam Chomsky hat ihn sogar mit den Nazis verglichen, die das Vorgehen ihrer Regierung stets zu entschuldigen wußten.

Die Bandbreite der Diskussion wurde womöglich von zwei prominenten Juden bestimmt, deren Berühmtheit allerdings nicht auf ihrem Einsatz für jüdische Belange beruht. Woody Allen, wohl kaum ein politischer Aktivist, hat für die 'New York Times‘ einen tiefbewegten Artikel geschrieben, in dem er als „Anhänger Israels“ dafür eintrat, „alle moralischen, finanziellen und politischen Druckmittel“ einzusetzen, um Praktiken zu verhindern wie „Zivilpersonen willkürlich aus ihren Häusern zu schleifen, um dann mit Stöcken auf sie einzuschlagen und so die Palästinenser zu terrorisieren“.

Auf der anderen Seite hat Ex-US-Außenminister Henry Kissinger vor einer nichtöffentlichten Versammlung führender jüdischer Persönlichkeiten angeblich erklärt, Israel solle es Südafrika gleichtun, die Medien von Krisengebieten fernhalten und den Aufrührern gegenüber keine Milde walten zu lassen.

Meinungsumfragen in den letzten Jahren spiegeln die zunehmende Kritik an bzw. Entfremdung von Israel amerikanischer Juden wider:

-56 Prozent der amerikanischen Juden haben Israel 1987 in keiner Weise unterstützt, und fast zwei Drittel der amerikanischen Juden haben (abgesehen von der Gemeinde ihrer Synagoge) keinerlei Verbindung zu den bestehenden pro -israelischen Organisationen.

-20 Prozent der amerikanischen Juden sprechen sich für Verhandlungen mit der PLO und die Errichtung eines palästinensischen Homeland in den besetzten Gebieten aus (in der nicht-jüdischen Bevölkerung sind es 52 bzw. 50 Prozent).

Der wesentliche Punkt dabei ist die Formulierung der Fragen. Schon 1980 wurde bei einer Umfrage festgestellt, daß 59 Prozent der amerikanischen Juden meinten, „es muß einen Weg geben, die Sicherheit Israels zu garantieren und gleichzeitig den Palästinensern einen unabhängigen Staat im Westjordanland zu geben“ (25Prozent waren anderer Meinung). Das heißt, wenn Juden einen Palästinenserstaat nicht als Bedrohung der Sicherheit Isarels empfinden, treten mehr als zwei Drittel aller Befragten für einen Palästinenserstaat ein. Würde eine israelische Regierung oder auch ein amerikanischer Präsident sich vehement für einen Palästinenserstaat einsetzen, der die Sicherheit Israels nicht bedroht, sondern gewährleistet, hätte er wahrscheinlich die Mehrheit der Juden auf seiner Seite.

-41 Prozent meinen, daß in der Haltung Israels gegenüber den Arabern Rassismus mitspielt, und 27 Prozent der Juden unter 41 Jahren haben genausoviel Sympathie für die Palästinenser wie für die Israelis.

-Der Vorschlag, Israel solle seine „expansive Siedlungspolitik im Westjordanland aussetzen, um Friedensverhandlungen zu erleichtern“, fand zu 51 Prozent Zustimmung und zu 28 Prozent Ablehnung.

-Während 1983 noch 78 Prozent aller amerikanischen Juden die innere Verbundenheit mit Israel für einen wichtigen Aspekt ihres Judentums hielten, waren es 1986 nur noch 63 Prozent.

„Die amerikanischen Juden hatten in der Vergangenheit ein undifferenziertes, emotionales, idealisiertes und verklärtes Bild von der israelischen Gesellschaft“, meint Steven Cohen, Soziologe am New Yorker Queens College. „Aber dies Image ist in dem Maße in sich zusammengebrochen, wie ihnen bewußt wurde, welche Konflikte es in Israel zwischen Links und Rechts, religiös und weltlich Orientierten, Juden und Arabern, Reich und Arm gibt.“ Cohen hätte außerdem die Spannungen zwischen europäischen (Aschkenasim) und orientalischen Juden (Sephardim) sowie zwischen orthodoxen und nicht-orthodoxen Gläubigen anführen können.

Noch immer liegt den amerikanischen Juden Israels Sicherheit und Wohlergehen sehr am Herzen. Doch kommen immer mehr Juden zu der Überzeugung, daß Schweigen angesichts ungerechter Aktionen Israels weder den israelischen Juden noch den Palästinensern noch dem Weltfrieden dient.

Übersetzung: Gertraude Krueger