Jüdische Kindheitserinnerung an Bremen

■ Ein ehemaliger Bremer, dessen zionistischer Vater 1936 noch rechtzeitig für seine Familie alles verkaufte und aus Nazi-Deutschland floh, besuchte mit seiner Frau in diesen Tagen die Stadt seiner Kindheit - zum ersten Mal seit 52 Jahren

In diesen Tagen sind zwei rüstige alte Leuten durch Bremen spaziert, haben selten ihr Identität gelüftet: Moshe und Ruth Shany. „Ich habe die Straße an dem runden Bordstein wiedererkannt“, erzählte er. Der Name ist heute anders: In der „Gartenstraße“ stand damals die Synagoge - bevor sie brannte. Heute steht dort das Kolping-Haus.

„Siegbert Scheiniak“, so sein deutscher Name, ist mit 13 Jahren mit seinen Eltern weggezogen von Bremen, das war 1936. In den 43 Jahren seit dem Ende des Nazi-Schreckens hat niemand sich bemüht, das Schicksal seiner - jüdischen Nachbarn herauszufinden. Jahrelang hat auch er um die Stätten seiner Kindheit einen Bogen gemacht. Jetzt hat er sich an die Erinnerungen herangetraut, jedenfalls ein Stück weit. Er ist an dem Haus, in dem er früher gewohnt hat, vorbeigegangen - es steht noch. Die Cocos-Weberei in Walle, die sein Vater, damals Hals über Kopf an „Arier“ verkaufen mußte, wollte er auch heute nicht betreten. Auch nicht den jüdischen Friedhof. „Warum das alles aufwirbeln.“

„Siegbert“ hatte Glück. Sein Vater war Zionist; der Gedanke, nach Israel zu gehen, lag nahe. Die Schaniaks gingen gerade noch rechtzeitig - die Brüder und

Schwestern der Mutter mit ihren Familien nicht. Von den Großeltern steht auf dem Friedhof nur ein Gedenkstein - sie wurden im KZ Theresienstadt ermordet.

Erinnerungen? Die Erwachsenen haben damals nichts erklärt, aber die Atmosphäre hat sich für die Kinder spürbar verändert. „Es war so, wie wenn man ir

gendwo steht und es wird langsam kalt“, beschreibt das Moshe Shany heute. Irgendwann spielten die Kinder in Walle nicht mehr mit Siegbert, nur drei jüdische Familien gab es im Stadtteil. Also mußte er zum Spielen einen weiten Weg in die Stadt zu der dortigen Pfadfinder-Gruppe fahren. Mal verschwand einer hier, mal einer da - Erklärungen gab es für die Kinder nie, aber ein ungutes Gefühl. „Ganz einfach Angst.“

Auf dem Schulweg wurden Steine geworfen auf die jüdischen Kinder, einige der Lehrer waren plötzlich weg. Es gab Schießereien, der 13jährige Siegbert mußte das Gymnasium (Elsflether Straße) verlassen. Nachträglich wurde erklärt, er habe die Aufnahmeprüfung gar nicht nicht bestanden.

Ruth Shany, seine Frau, ist damals in Danzig aufgewachsen. Ihr Vater hatte damals zeitweise nicht zu Hause geschlafen. Die Kinder wußten nicht genau, warum - er wurde gesucht. Es war Erich Lichtenstein, der die dortige Synagoge Stein für Stein verkaufte - kurz bevor im Deutschen Reich die Synagogen brannten. Mit den

Steinen finanzierte er das Lösegeld für einen Auswanderer -Zug.

Die jüdischen Kinder bekamen in der Schule diskriminierende Sporturkunden - ohne Hakenkreuz. Von anderen Kindern wurde Ruth Shany einmal unter antisemitischen Schimpfworten mit ihrem Schlitten einen steilen Hang hinuntergestoßen - sie erlitt eine Wirbelsäulenverletzung, jahrelang Schmerzen und Migräne. Was empfinden alte Leute, die sich nach 52 Jahren mit Erinnerungs-Bildern konfrontieren? „Manchmal hat man das Gefühl, als hätte jemand anderes das erlebt“, sagt Moshe Shany. Ein komisches Gefühl haben sie alten Menschen gegenüber, die sie auf der Straße treffen. Sie versagen sich die Frage: „Wo war der wohl?“

Ruth Shany spricht ihre Bindungen an die deutsche Kultur offen aus. In Israel, sagt sie, fühle sie sich auch nach so langen Jahren immer noch „auf Besuch“. Auch er sucht vor allem schöne Erinnerungen an Bremen. „Das andere kommt nachts raus“, sagt seine Frau. Reden im Traum.

K.W.