Bremen, Ortsteil Brarmen

■ Bremen demnächst: 40.000 ohne Arbeit - eine Kleinstadt von Arbeitslosen am Stadtrand der Vollbeschäftigung organsiert das Überleben / (k)eine Science-fiction

„Hätten Sie vielleicht freundlicherweise eine Filterzigarette für mich, äh, haste mal ne Zichte, Kollege?“ Der Herr in dem verschlissenen, früher wohl mal feindezenten Nadelstreifen hat offensichtlich schon bessere Tage gesehen. Jetzt spielt er mit seiner verknuffelten Stammkarte des Arbeitsamtes in den nervösen, immer noch gepflegten Fingern, neben sich das abgeschabte bordeauxlederne Aktenköfferchen

mit den säuberlich geordneten Antragsunterlagen in der Schlange schläfrig Wartender. Unter ihnen hat sein Erscheinen zwischen den Glasflügeltüren vor drei Stunden heftiges Tuscheln ausgelöst. Warten auf das „Urteil“ der resoluten, kaum zwanzigjährigen Arbeitsberaterin, die die Bundesanstalt für Arbeit aus dem blühenden Süden in die „finsterste“ Gemeinde der Bundesrepublik nordwärts geschickt hat. „Strafversetzung“ nennen die Mitarbeiter der Bundesanstalt solche Delegationen ins norddeutsche Brarmen (ehemals Tenever) seit die ehemalige Hansestadt und heutige Samtgemeinde Bremen ihre Zahlungsunfähigkeit erklärt und Regierung und Parlament sich selbst aufgelöst haben. Der amtierende Bundesinneneminister Zimmermann hatte daraufhin Bremen der niedersächsischen Landesregierung kommissarisch unter Federführung des Ministers Hasselmann unterstellt. Aus „verwaltungstechnischen Gründen“ waren die Arbeitslosen damals in eine umbenannte große Hochhaussiedlung am Stadtrand umgesiedelt worden. „Deutschlands reichhaltigste Arbeitslosenauswahl - Urbanes Leben mitten im Grünen“, wirbt die eilig mit sogenannten Paragraph-19-Stellen eingerichtete Brarmener Wirtschaftsförderungsgesellschaft bundesweit um ansiedlungswillige Investoren.

„Hallo, Grobi!“ Endlich mal ein bekanntes Gesicht. Der ehemalige Wirtschaftssenator hatte es nach der Staatspleite mit einem privaten Getränke-Hausverkauf unter anderem Namen versucht. Vier Monate ging das Experiment gut. Dann bekam der Bierverlag aus ehemaligen CDU-und jetzigen Kundenkreisen Wind von seiner wahren Identität und Zweifel an der Seriosität seines Geschäftspartners. Inzwischen wartet der Ex-Senator und jetzige Kassenwart im Zusammenschluß lokaler Arbeitslosenselbsthilfe-Initiativen auf eine ABM-Stelle als Offset-Drucker in der Brarmener Kulturkooperative „Druck -Store“. Bei 96 Bewerbungen und grünen Mehrheiten in der Initiative rechnet sich der ehemalige Politiker realistischerweise geringe Chancen aus. „Wir sehen uns nachher in der Ereigniszone bei der Demo gegen Komplett -Arbeitslosigkeit!“ „Mal sehen, ich muß zum Sozi, Wohngeld be

antragen, und dann hab‘ ich AfG-Kurs 'Wie bewerbe ich mich richtig‘, solltest Du auch mal besuchen!“

Seit drei Monaten läuft der Antrag auf eine Rehabilitationsmaßnahme für besonders schwer vermittelbare Langzeitarbeits- lose. Himmel, was macht man als Fachberaterin mit einem ausrangierten Bürgermeister bei 40.000 Arbeitslosen und einer Arbeitslosenquote von exakt 100 Prozent. Gut, der Mann hat mal Kaufmann gelernt. Aber bei der geringen Berufserfahrung! Und überhaupt, Kaufleute sind nun wirklich das letzte, was Brarmen brauchen kann! „Herr Wedefeier, bitte einzeln eintreten!“

„Tja, es sieht nicht gut aus. Ich hab Ihren speziellen Fall noch mal mit meinem Abschnittsleiter besprochen. Um eine berufliche Neuorientierung werden wir wohl nicht rumkommen. Ihre Anregung, eine Schein-Gemeindeverwaltung einzurichten, ist nicht genehmigungsfähig. Damit ist natürlich auch ihr Antrag auf Bewilligung eines Übungssenats unter ihrem Vorsitz hinfällig. Alles was ich Ihnen derzeit anbieten könnte, wäre eine Stelle in der Mikroverfilmungs-Werkstatt. Die kommissarische Landesregierung hat die Verfilmung von Akten der ehemaligen Bremer Bürgerschaft in Auftrag gegeben. Da wäre also was frei und Sie persönlich könnten ihre beruflichen Kenntnisse im EDV-Bereich erweiteren. Daimler Benz und MBB sollen sowas ja immer noch suchen. Herr Dr. Niefer, denn kennen Sie ja wohl auch noch, war gerade hier und hat mir den Tip gegeben. Tragische Existenz, wenn ich daran denke, wie lange der auf seine Stelle als Arbeitsvorbereiter in den Jugendwerkstätten gewartet hat. Also, überlegen Sie sichs. Sie wissen ja, sonst drohen Sperrfristen.“

Der arbeitssuchend gemeldete Klaus W., Stammnummer X 2923197/88, hat freie Fahrt. Aus Kostengründen bleiben sämtliche Brarmener Verkehrsampeln seit langem dunkel. Autos besitzen ohnehin nur noch der Tierarzt, der evangelische Geistliche und der Bezirksbevollmächtigte des DGB. Selbst die Müllabfuhr ist auf Initiative einer Selbsthilfegruppe unter Vorsitz der ehemaligen Unmweltsenatorin auf Handkarren umgestellt worden. Nach

einer vierwöchigen Besetzung der Fuhrpark-Werkstätten in der kommunalen Müllabfuhr waren 350 ABM-Stellen neubewilligt worden.

„Was Ute wohl sagen wird?“ Bei einer der Straßenhändlerinnen kauft W. ein halbes Pfund Kartoffeln. Die meisten Brarener haben inzwischen am Fuß der Hochhäuser kleine Gemüsegärtchen eingerichtet. Die meisten Erträge landen im eigenen Suppentopf. Die geringen Überschüssen werden am Straßenrand von den Scharen fliegender Händler feilgeboten. Als W. in die Siedlung zog, waren alle Grünflächen bereits in Sozialgärten umgewandelt gewesen. Zum Ausgleich bekam er im ehemaligen Keller-Partyraum des Hochhauses ein Eckchen. Abends guckt er jetzt, wie sich die Champignons entwickelt haben.

Kinder lärmen. Schulschluß in den beschäftigungstherapeutischen Werkstätten. Außer einfachen Handarbeiten bekommen die Kinder der Siedlung hier wenigstens eine Einführung in die Kulturtechniken. Jetzt rennen sie hinter dem Fahrrad her, aber W. will partout nicht die Sehenswürdigkeiten der Siedlung sehen, nein, auch nicht für „nur 50 Pfennig“ und auch nicht die „Höhlenmenschen“. W. kennt das: Wer ein Fahrrad und einen Anzug hat, geht in Brarmen als Tourist durch. Nur die Älteren grüßen fast ein bißchen ehrfürchtig, und, wer einen hat, lüpft den Hut ein wenig. W. schließt das Fahrrad dreimal ab, steigt zu Fuß die 8 Stockwerke hoch und zieht sich um zur Demo fürs Recht auf Grundsicherung und Mindesteinkommen. W. ist unwohl, wahrscheinlich werden ein paar Chaoten wieder versuchen, die Demo zu einem Zug für das „Recht auf Faulheit“ umzufunktionieren. Im Hausfunk werden die neusten Zahlen der Arbeitslosenstatistik durchgegeben.

Die Bundesanstalt für Arbeit ist optimistisch, die niedersächsische Landesregierung spricht von einem „Silberstreif am Horizont dank einer Wende in der Bremer Wirtschafspolitik“. In Brarmen sind „nur“ noch 37.433 Menschen arbeitslos. Bremen meldet „nahezu Vollbeschäftigung“. Aber wer von den Bremern weiß schon noch, wo „Brarmen“ liegt.

Klaus Schloesser