TOTE SCHLAFEN NICHT

■ Zwei Wiedergänger des Neuen Westens im Literaturhaus

Es gab viele junge Schriftsteller am Ende der Weimarer Republik, denen bei den ersten literarischen Gehübungen die Nazistiefel auf die Füße traten. Einige, wie Wolfgang Koeppen, haben mit Verspätung trotzdem den Namen bekommen, den sie nun haben; andere, wie Martin Kessel, schwebten geistergleich, halb bekannt, halb Niemandslandgestalten, durch die Wirtschaftswunderrepublik. Nur wenige sind wie Konrad Merz. Vielleicht kennen ihn Exilforschungsspezialisten, doch wenn sie ihn kennen, muß das auch nicht mehr sein als eine akademisch ehrenwerte Tatsache. Vergangenen Dienstag war Gelegenheit, den höchstlebendigen Träger seines Schriftstellernamens lesen zu hören. Schlohweiße Haare, die sich mit dem kantigen Gesicht in die Buchleiber wühlen und zu glühen scheinen, wenn die Stimme seine Texte auflädt und per Express leben läßt. Die Stimme: Grundtonfall Berlinerisch, aber nicht das von der Sorte Neuer Westen und Metropolenkoketterie, sondern Berlin SO, rund ums Schlesische Tor, wo die Sprache feste Schuhe trägt und kräftig ausschreiten kann.

Konrad Merz ist nicht aus dem Neuen Westen, sondern um ihn herumgekommen. Aus dem jüdischen Proletariat stammend, das es auch in der Gegend des Schlesischen Tors gab, 1908 als Konrad Lehmann geboren; der Vater stirbt 1914, Waisenhausjahre mit allem, was nicht dazugehört; später Lagerist, Vertreter für Marmorwaren, Reisender in Konserven, Statist an der Oper, Abendgymnasium, endlich 1932 Studium, Jura, leider. 1933 fällt der Mann aus Deutschland heraus, und er fällt immer noch, sagt Konrad Merz heute. Er sagte aber auch am Dienstag abend mit seiner pathosfreien Stimme unumwunden, nachdem er gebeten wurde, doch auf dem Podium Platz zu nehmen und nicht stehenzubleiben: „Entschuldigen Sie, daß ich hier sitze, auch wenn ich in Deutschland nicht mehr existiere.“

Konrad Merz emigriert 1934 nach Ilpendam in Holland. Seine erste literarischen Veröffentlichungen stammen aus der Emigrationszeit, der Roman „Ein Mann fällt aus Deutschland“ erscheint - auch auf holländisch - 1936. Er ist einer, der in Deutschland nicht leben gelassen wurde und deshalb gezwungen war, woanders ein Leben zu improvisieren, eine Improvisation, die einschloß, daß er Romane schrieb, die dort entstanden. Auch wenn ihm das Deutschland hinterherkam und zwang, sich bis 1945 zu verstecken, um zu überleben und weitere Romane schreiben zu können, die soviel mit diesem Land zu tun haben wie nur vorstellbar bei einem, der daraus herausfiel und weiter fällt.

In Holland wurde kein Berufsschriftsteller aus ihm, er wurde medizinischer Masseur. In den wenigen Prosawerken durchknetete seine Sprache jedoch die Erfah rung, die seine Existenz aus der Bahn warfen. „Der Mann, der Hitler nicht erschossen hat“ entstand 1976. „Meine Haare“, sagt er, „haben sich in Deutschland so sehr gesträubt, daß ich sie mir in Holland schneiden lassen mußte.“ Gesträubt sind die Haare immer wieder nachgewachsen, so daß sie in seinen Büchern nachgeschnitten werden mußten. Das geschah aber in Grotesken auf die haarsträubende Weltgeschichte, in denen der Todesmut des Erzählens die Tödlichkeit dieser Geschichte unterläuft. Konrad Merz ist ein Erzähler, kein Moralist, und ein Erzähler, wie es kaum noch welche gibt. Die Stücke aus „Ein Mann fällt aus Deutschland“ und den Erzählungen eines Masseurs, „Schlächter, Weib, Majestät“, die 1972 erst als seine allererste Publikation in der Bundesrepublik von Walter Huder in der Berliner Handpresse herausgegeben wurden, lassen, wie er sie mit seiner Stimme in wirbelnde Sprachströme aus hartgefügter Syntax und scharfgeschnittenen Dialogen lenkte, die tote Schrift im Erzählen wieder auferstehen und zu sich kommen. Wer diese Stimme am Dienstag erzählen hörte, wird die literarischen Werke Konrad Merz‘ erst richtig lesen können. In der Literatur ist das ein seltener Fall, daß eine Stimme die Werke trägt wie ein Strom tausenderlei Treibgut. Im Rahmen einer Ausstellung zum literarischen Neuen Westen, mit dem ihn nichts verbindet, außer daß seine Literatur in der Zeit entstand, als der Neue Westen in Pension geschickt worden war, ist Konrad Merz sicher deplaciert. Für einen Mann, der herausfällt, nichts Neues. Für die, die ihm dabei zuhören konnten, ein Glück.

Ein Unbekannter ist Franz Hessel schon längst nicht mehr, den am Freitag abend Yaak Karsunke als „Walter Benjamins Blauen Chinesen“ vorstellen und vortragen sollte. Aber Hessel repräsentiert vor allem den Blick des in den 20er Jahren ins Vergangene gebärdenden Neuen, der von den kurzlebigen Sensationen des Modernen geprägt war, als 1929 sein Buch „Spazieren in Berlin“ die Bilder Berlin aufnahm. Ein Panoptikum dessen, was Hessel bei der „schwierigen Kunst, spazieren zu gehen“ auflas, und auch, worin diese Kunst besteht und wie sie auszuüben wäre, sollte Karsunkes Auswahl von Stücken Hessels überzeugen, deren Vorlesen von biografischen Skizzen unterbrochen wurde.

Karsunke bewegte sich mit Hessel vom Neuen Westen zielstrebig fort, sei es zurück zum „preußischen Griechenwesen“ des Alten Westens, sei es weiter nach Norden, wo in der Müllerstraße Straßenhändler Hessel faszinierten und ihre Verkaufssprachpoesien notieren ließen. So zauberhaft diese Berliner Bilderbögen voller Sprachkunststücke auch sind: sie vorzulesen, ist ein eigene Kunst. Franz Hessel ist nicht in Berlin geboren, sondern in Stettin; als Achtjähriger kam er hierhier, und diese halbe Berliner Kindheit hat Distanz zur Stadt und ihrer Sprache in seine Prosa eingraviert. Yaak Karsunke dagegen ist in Berlin geboren, und wenn er Hessels Prosa liest, verschwindet polternd diese Distanz, die für Hessels Blicke und Sprachbilder der Stadt entscheidend ist, so daß sie sich schief zum Klima des Befremdens und des Geheimnisvollen stellen, aus dem sie leben. Für einen Vortrag, der über einen Leseabend nicht hinauskommt und für den kursorischen Überblick von Hessels Biografie darauf verzichtete, die Topografie des Neuen Westens in Hessels Werken zusammenzutragen wie es von der Rahmenveranstaltung zur Ausstellung zu erwarten ist, hätte ruhig auf eine Rezitationskunst zurückgegriffen werden können, welche die Texte nicht an den Gehörgängen vorbeilaufen ließe.

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Das weitere Rahmenprogramm: Dienstag, 20 Uhr, „Asphalt“, Stummfilm von Joe May (1928/29)

Mittwoch, 20 Uhr, „Geniale Boxer - schlagkräftige Künstler“, Vortrag von Jens Kwasny

Donnerstag, 20 Uhr, „Ich bin selbst ein Teil Theater.“ Die Berliner Theater- und Kabarettszene im Spiegel der Gedichte, Brettlspäße, Kritiken und Briefe Max Hermann-Neißes. Vortrag von Klaus Völker.

Ort: Fasanenstraße 23, 1-15, Eintritt frei.