ECKE ANTONSTRASSE

■ Irritationen am Wedding - Die Erkenntnisse des Fräulein L.

Der Wedding ist wegen seiner recht urwüchsigen Bevölkerung und des billigen Wohnraums einer der „kommenden“ Stadtteile von Berlin. Selten schlurft hier ein Alternativer umher. Viel öfter sieht man den einfachen Volksberliner. Er bevölkert abends schwankend die Straßen und haucht den Frauen zwischen Aufstoßen und Rülpsern ein „Hey Mädel“ entgegen. Die breiten Straßen dieses Viertels scheinen extra dafür gebaut zu sein, daß kleine Mädchen bequem fünf in ausufernden Schlangenlinien nebeneinanderher torkelnde Berliner passieren können.

In diesem Stadtteil wohnt Fräulein L. Schon in ihrer Jugend hatte sie vom „Roten Wedding“ gehört, aber nicht den politisch roten Wedding assoziiert, sondern gedacht, damit wäre der „blutrote“ Wedding gemeint.

Fräulein L. ist eine mittelgroße schlanke Frau mit gepflegtem Aussehen. Am liebsten würde sie alle zwei Wochen zum Friseur gehen, um ihre bis zu einer bestimmten Höhe von Natur aus stehenden Haare perfekt gestylt zu halten. Da ihre Mittel aber noch knapp bemessen sind - sie studiert Mathematik an der Technischen Universität - leistet sie sich den Gang zum Haardesigner nur einmal im Monat und begnügt sich damit, oft vom Friseur zu reden.

Fräulein L. wirkt meistens recht gefaßt und sachlich. In ihrer Wohnung hat sie zuletzt ein Poster mit einem abstrakten Objekt aufgehängt. Sie hat ein verblüffend präzises Gedächtnis. Alle Nachlässigkeiten, Faux Pas‘ und kleine Fehler listet sie in ihrem Kopf auf wie ein Computer, vergißt aber auch erfreuliche Dinge nicht. Außerdem verfügt sie über die bei Frauen recht seltsame Fähigkeit zum schneidenen Sarkasmus, der von einigen ihrer Mitmenschen sehr geschätzt wird.

Diese junge Frau scheint ein geordnetes Leben zu führen. Doch sie hat das Pech, von einer der dunkelsten und übelsten Schattenseiten einer großen Stadt verfolgt zu werden: dem Verbrechen. Der Stadtteil, in dem sie lebt, hat eine markante Kriminalitätsquote. Aber Zehntausende von Menschen gehen hier Tag und Nacht durch die Straßen und ihnen passiert... nichts. Sie werden nicht einmal Zeugen von irgendwelchen Bluttaten. Manchmal nehmen sie einen Rettungswagen wahr, der mit Blaulicht durch die Straßenschluchten rast, und vermuten darin nichtsahnend uralte Greise, die doch noch ein Herzinfarkt erwischt hat. In Wirklichkeit aber kämpfen in dem Wagen Ärzte verzweifelt um das Leben junger Mädchen, die in dunklen kalten Hausfluren mit winzigen Taschenmessern zerstochen wurden.

Doch, wie gesagt, es trifft nur wenige.

Fräulein L. wohnt in einer Wohnung direkt unter Dach. Sie hat drei Außenwände und eine Wand zum Hausflur. Mehrere Wände also, die einen direkten Kontakt zur Außenwelt zulassen. Fünf große Ohren, die auch die feinsten Laute des Verbrechens wahrnehmen. Wenn Fräulein L. abends alleine in ihrer Wohnung sitzt und rechnet, muß sie sich Geräusche anhören, die offensichtlich von grausamsten Taten stammen.

Ein makaberes Hörspiel.

Ein Schrei? Wahrscheinlich ein Lustmord an der fetten Frau von gegenüber. Trug ihr Freund nicht vor einigen Tagen eine riesige Pferdepeitsche bei sich?

Schwirren in der Luft? Da fliegen vor der Kneipe wieder die Messer. Fleischermesser. Groß wie Bumerangs.

Der Knall? Jetzt windet sich jemand im Gulli. Die Kugel hat genau sein Glasauge getroffen, dieses quer durch das Gehirn und hinten mit leichtem Knacken durch Schädelknochen und Kopfschwarte wieder rausgejagt, wo Auge und Kugel noch soviel Kraft besaßen, um die nächste Straßenlaterne außer Gefecht zu setzen. Die Reparatur wird wieder wochenlang auf sich warten lassen. Somit gibt es eine weitere unbeleuchtete gefährliche Ecke in der Gegend.

Fräulein L. weiß, was im Wedding möglich ist.

Der gestrige Abend zum Beispiel versprach ruhig zu werden. Fräulein L. hatte das Fernsehprogramm studiert und festgestellt, daß ab 20 Uhr bis nach Mitternacht durchgehend Spielfilme oder Sportsendunmgen gezeigt würden. Die Szene der potentiellen Gewalttäter würde den Abend vor dem Fernseher verbringen und nach Sendeschluß entweder zu betrunken oder zu faul sein, um noch irgendetwas zu unternehmen.

Fräulein L. hatte im Laufe der Jahre herausgefunden, daß es einen erschreckenden Zusammenhang zwischen der Qualität des Fernsehprogramms und der Verbrechensrate gibt. Während einer beliebten Unterhaltungssendung konnte sie problemlos spazieren gehen. Ein ödes Wirtschafts- und Politmagazin bedeutete dagegen oft: Mord im Wedding. Sie wollte schon seit langem die Polizei über ihre Erkenntnisse informieren. Die Beamten könnten viel gezielter und wirkungsvoller eingesetzt werden. Die Stadt würde alleine durch ein Umorganisieren der Streifentätigkeit sicherer.

Aber Fräulein L. hat Angst, sich mit ihrer feinen Sensibilität in Sachen Gewalt lächerlich zu machen. Sie erhofft sich wenigstens vom neuen Kabelfernsehen und vielen Videoshops eine gewisse Beruhigung. Doch diese Wirkung wird nachlassen, wie sie bei der Beobachtung der Verbrechensentwicklung in den USA festgestellt hatte.

Die Straßen waren am gestrigen Abend dunkel und ruhig. Durch einige Fenster der gegenüberliegenden Häuser war zu sehen, wie das kränklich weiß-blaue Licht der Fernseher durch die Zimmer zuckte. Eine gute Zeit, sich an den Schreibtisch zu setzen. Die Hausarbeit war erledigt. Die Wäsche hing beim Kachelofen, der extra zum Trocknen angeworfen war.

Nach einer halben Stunde ging Fräulein L. zum Schrank, schüttete sich einen Pernod ein und rechnete dann konzentriert weiter.

Eine Stunde später fiel ihr plötzlich ein, daß sie noch ein Mousse au Chocolat für den morgigen Besuch zubereiten wollte. Sie wechselte den Arbeitsplatz und rührte das Mousse an. Die fertige Süßspeise füllte sie in eine Glasform und brachte sie zum Kühlschrank.

In dem Augenblick, als sie die Schüssel gerade ins Fach schieben wollte, zerriß ein ohrenbetäubender Knall die Stille. Vor Schreck ließ Fräulein L. die Schüssel fallen, der halbe Inhalt kleckerte über die Kühlschranktür auf den Boden. Entsetzt sprang sie einen Meter zurück, riß eine Hand vors Gesicht, um nicht loszuschreien. An der Stelle, wo sie eben noch stand, bohrte sich ein großes Metallgeschoß durch den Dielenboden. Es flog Richtung Zimmerdecke. Das Durchdringen des Bodens hatte viel Energie gekostet. Das Geschoß wurde langsamer, erreichte genau auf Augenhöhe von Fräulein L. den Zenit seiner Laufbahn. Es blieb wie von Geisterhand gehalten für einen Augenblick in der Luft stehen, während sie in eine kurze Angststarre verfiel. Dann fiel es zu Boden. Fast wahnsinnig vor Angst, wie automatisch, griff sie das Metallstückchen und warf es aus dem Fenster, um es nicht mehr sehen zu müssen.

Um wieder zur Besinnung zu kommen, trank sie ein zweites großes Glas Pernod pur mit einem Zug leer.

Dann kniete sie nieder, um das Loch im Fußboden zu untersuchen. Genau betrachtet sah es ganz unscheinbar aus. So, als hätte jemand eine brennende Zigarette fallen lassen und ein Loch in den PVC-Boden gebrannt. Zufällig an einer Stelle, wo der Dielenboden ein Astloch hatte.

Fräulein L. sackte in sich zusammen. Verzweiflung überkam sie. Sie erkannte, daß sie niemandem klar machen konnte, wie sehr ihr Leben in Gefahr gewesen war. Es gab keine Beweise. Keiner würde ihr glauben.

Schnell wurde ihr klar, was passiert war. In der Wohnung unter ihr wohnt ein Waffennarr. Offensichtlich hat er beim Reinigen eines Gewehres zufällig einen Schuß ausgelöst. Sogar wenn sie die Kugel noch hätte, mit der zu beweisen war, daß sie aus seinem Gewehr stammt - der Schütze würde das Gewehr längst versteckt haben, bis die Polizei käme. Dann stände sie da, mit einem Metallgeschoß in der Hand, daß sie irgendwo gefunden haben könnte.

In diesem Augenblick fühlte sich Fräulein L. sehr alleine. Auch am nächsten Vormittag spürt sie noch Reste dieses Gefühls in sich. Sie lehnt sich aus dem Vorderfenster und beobachtet das Treiben auf der Straße.

Die Sonne scheint aus einem blanken blauen Himmel. Das helle freundliche Licht läßt die meist heruntergekommenen Häuser der Antonstraße raffiniert vergammelt aussehen.

Plötzlich wird Fräulein L. gewahr, daß Ecke Ruheplatz -/Antonstraße ein Mann einen großen Revolver aus der Tasche zieht, auf dem ein Schalldämpfer steckt. Mit einem grellenden Schrei will sie die Menschen auf der Straße warnen und sich zu Boden werfen. Da merkt sie, daß der Mann den Revolver gar nicht benutzen will, um das zu tun, was in Berliner Polizeikreisen unter der Hand der „typisch Weddinger Amoklauf“ genannt wird. Offensichtlich hat er die Schußwaffe gerade gekauft und will sie nur untersuchen.

Niemandem war der Mann mit dem Revolver aufgefallen. Da löst sich ein Schuß. Außer dem Mann kann dies nur das entsetzte Fräulein L. erkennen, das als einzige in der Lage ist, das kurze trockene Plöp und den kurzen Ruck des Revolvers einander zuzuordnen. Dem Mann ist dieses Verhalten peinlich. Er steckt die Waffe schnell in den Mantel, dreht sich ein paar Mal um und verschwindet in Richtung Urnenfriedhof.

Unterdessen nimmt die Kugel ihren Lauf. In Hüfthöhe abgeschossen, fliegt sie leicht ansteigend den Bürgersteig der Antonstraße hinauf. Nachdem sie den Kopf eines bleichen mageren Kindes knapp verfehlt hat, dringt sie in den über die Schulter gehängten Einkaufsbeutel einer Hausfrau ein. Dort zermatscht sie eine Banane der Länge nach, durchschlägt eine Packung Billigmargarine und reißt noch ein kleines Loch in eine Spülmittelflasche.

Die nächste Person, welche die Flugbahn des Projektils kreuzt, ist ein junger Autonomer, der vor drei Wochen aus einem bayerischen Dorf nach Berlin gekommen war. Das Geschoß streift seinen vor zweieinhalb Wochen erworbenen Ohrring. Das löst ein metallisches Vibrieren in seinem Kopf aus. Diese Empfindung führt er auf die Nachwirkungen seines gestrigen Drogenexperiments zurück. Er hatte die kombinierte Wirkung von Haschisch, Bommerlunder und einem Parkinson -Medikament ausprobiert.

Die Kugel fliegt weiter und überquert die Prinz-Eugen -Straße.

Genau an dieser Stelle war Fräulein L. vor 20 Minuten gegangen, als sie vom Einkaufen im Karstadt zurückkam.

Jetzt gibt es noch eine Person, die in der Flugbahn steht. Die Kugel steuert genau auf sein Ohr zu. Es ist ein mittelalter Mann, einer jener im Wedding noch zahlreichen einfachen Volksberliner. Vor Jahren hatte er sich angewöhnt, schon morgens mit dem Trinken von Bier anzufangen. Ausgerechnet heute war er von seiner Stammarke, dem Schultheis-Bier, abgekommen und hatte dem wochenlangen Drängeln eines Freundes nachgegeben, doch einmal das viel bessere Jever zu probieren. Sein Magen hatte, wie erwartet, ziemlich irritiert reagiert. Das war ihm seit Jahren nicht mehr passiert. Plötzlich krampft sich der Magen aufs heftigste zusammen, der ganze Körper krümmt sich schlagartig. Genau eine Hunderstel Sekunde, bevor die Kugel durch das Ohr in den Kopf gedrungen wäre. Der Mann spuckt im hohen Bogen den Inhalt eines Sixpacks Jever versetzt mit etwas Magensaft und einer ältlichen Boulette gegen die nächste Hauswand. Die Kugel fliegt durch eine mehrere Kubikmeter starke Bierdunstwolke, schlägt in der Maxtraße in eine Hauswand ein, fällt auf den Bürgersteig, kullert in den nächsten Gulli und verschwindet darin.

Schweißgebadet geht Fräulein L., die einzige Zeugin, an ihren Schreibtisch zurück und rechnet weiter. Was sie in den letzten zwei Tagen erlebt hat, wird sie niemals jemandem erzählen können.

Thomas