Als Bürgerschreck ungeeignet

■ Dokumentation einer aktuellen Analyse der Grünen, die im Auftrag der SPD gefertigt wurde und dem SPD-Parteivorstand vorlag

Für einen grünen Utopisten mag dieser nüchterne Bericht wie die endgültige Bilanz eines Niedergangs der Grünen anmuten. Tatsächlich hat diese Analyse des Perspektivenkongresses der Grünen (16.-19.Juni) im Auftrag der SPD-Führung eine diametral entgegengesetzte Bedeutung. Sie wurde von Malte Ristau erstellt. Er ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der Programmkommission, Referent für Programmfragen und Geschäftsführer der Historischen Kommission. Die sachliche Kritik der Grünen, die dieser Bericht beinhaltet, zielt gegen eine Tendenz unter SPD-Funktionären, die Grünen zu beerdigen beziehungsweise aus dem politischen Kalkül auszuklammern. Die Hauptthese des (gekürzten) Berichtes, nach der die Grünen als kalkulierbarer politischer Faktor weiterhin eine Rolle spielen werden, ist in Vorstandssitzungen mehrfach zitiert worden.

(...) Programmanlage, Zusammensetzung und Ablauf des Kongresses kennzeichneten noch deutlicher als inhaltliche Entwicklungen, daß die Günen keine Gegenkultur (mehr) verkörpern, daß sie mittlerweile auch als Bürgerschreck nur noch mit erheblichen Verrenkungen kostümierbar sind. Sie sind, was („normalisierte“) Kleidung, Sprache und Verhalten angeht, personeller Ausdruck spezieller Mittelschichtenmilieus und der jüngeren Generation. Die lebensweltlichen Trennlinien zu alternativen, gar autonomen Gruppen einerseits, zu sozial Ausgegrenzten andererseits, sind - mit wachsender Tendenz - bei der Mehrheit größer als zu entsprechenden Teilen unserer Partei. Die ca. 800 Teilnehmer und Teilnehmerinnen präsentierten sich in der Godesberger Stadthalle - überspitzt - als Mischung aus (habituell) evangelischem Jugendtreffen und (positionell) Frankfurter Kreis, im Altersschnitt ziemlich exakt dazwischen angesiedelt. (...) Das für mich inhaltlich Überraschende waren die drei Eingangsreferate auf dem sehr gut besuchten Forumm Perspektiven der Industriegesellschaft (Ulrich Briefs, Hubert Kleinert, Marie-Luise Beck-Oberdorf). Ziemlich exakt referierten die drei Genannten Positionen, die im Rahmen unserer Programmdiskussion etwa von Franz Steinkühler, Oskar Lafontaine und Inge Wettig-Danielmeier vertreten werden.

Insgesamt war es keine inhaltliche Neubestimmung, sondern der Versuch, Bekanntes neu anzuordnen sowie Gemeinsamkeiten und Unterschiede festzustellen. Trennlinien gibt es nach meinem Eindruck viel stärker im psychologischen als im inhaltlichen Bereich. Das Grundmißtrauen zwischen den Flügelexponenten ist irreparabel.

Die alten Glaubenssätze aus dem Sektenarsenal der siebziger Jahre sind auch bei den Grünen brüchig geworden. Tatsächlich links-radikale Beiträge waren äußerst rar. Der Beifall für fundamentalistische Äußerungen war nur dann bemerkenswert, wenn in diesen Integrationsfloskeln verwandt wurden. Das Abschlußplenum verlief entgegen allen Spekulationen der Medien insgesamt friedlich. Die vielen eindringlichen Wortmeldungen der Basis hatten ihren Eindruck auch auf die Flügelexponenten nicht verfehlt. Den einzigen strategisch anspruchsvollen (und auch taktisch gut verpackten) Perspektivbeitrag referierte Jo Müller von der Realo-Gruppe. Müller beschwor als grünen Grundkonsens, daß die ökologische Krise ob ihrer Dramatik hier und jetzt angepackt werden muß. Die realpolitische Option (s.u.) war vor diesem Hintergrund zwingend. Es gab zu seinem Beitrag kaum Widerspruch bis auf eine isolierte Stellungnahme des Ökosozialisten Christian Schmidt. (...)

Die Fundamentalisten respektive Ökosozialisten hatten kein Positionspapier vorgelegt. (...) Diese Defensiv-Position wurde allseits im Plenum als auch im Hintergrundgespräch als Ausdruck der Schwäche interpretiert. Ich nähere mich der Auffassung, daß die inhaltliche wie die personellen Ressourcen dieser Gruppierung erheblich überschätzt worden sind.

Keine relevante Rolle spielten auf dem Kongreß Personen und das Positionspapier der sogenannten Öko-Libertären. (...) Das Realo-Manifest akzeptiert gut reformistisch die bestehende Gesellschaft als Geschäftsgrundlage und skizziert analog zur Sozialstaatsentwicklung die Möglichkeit eines ökologisch dimensionierten Kapitalismus. Grünes Subjekt ist in der Realo-Sichtweise der linksliberale Citoyen, der Individualität genießt, aber den Grundwert Solidarität als Norm erhebt. Die realpolitischen Positionen werden - auch mangels Alternative - absehbar die Grünen immer stärker bestimmen. Personell werden sie sich m.E. zumindest mittelfristig nicht durchsetzen, da sie zu stark mit Machtpolitik und Anpassung (an die SPD, an Parlamente etc.) identifiziert werden.

Ich erwarte vielmehr, daß die auch von „realistischen“ Positionen ausgehenden, aber sehr stark moralisch argumentierenden und die vorgebliche „Andersartigkeit“ der Grünen als Identitätsfluchtpunkt betonenden Personen und Gruppen des „grünen Aufbruchs“ in der nächsten Zeit ihre Position stärken werden. (...) Eine erhebliche und überraschende Resonanz fand ein Gesprächsabend, zu dem „undogmatische Linke“ (diesseits der Fundamentalisten) und kritische Realos eingeladen hatten. Ludger Volmer, Jürgen Reents u.a. kritisierten an den Fundamentalisten primär die Inhalte und an den Realos primär deren Stil. Eine inhaltliche (nicht taktische) Konsensfindung zwischen dieser „öko-reformistischen Linken, zwischen der Mehrheit der Realos und der Aufbruchgruppe ist nicht nur möglich, sondern wahrscheinlich. Die grüne Partei könnte sich in einer derartigen Konstellation zu 90 Prozent wiederfinden. Der bröckelnde fundamentalistische Flügel, einige eher exotische Gruppen sowie einige allzusehr in Konflikte verstrickte und allzu „revisionistische“ Realo-Prominente könnten als Restmenge verbleiben (bzw. die Partei verlassen). Die Existenz der Grünen wäre dadurch nicht in Frage gestellt. (...)

Ausblick - Die Spaltung fand nicht statt. Sie wird absehbar auch nicht stattfinden.

-Die Grünen sind als Bürgerschreck mittlerweile denkbar ungeeignet. Dies wird sich m.E. auch in den Medien niederschlagen (Stichwort: grüne FDP).

-Die inhaltliche Entwicklung der Grünen (Stichwort: Revisionismus) bedeutet eine verstärkte inhaltliche Konkurrenz SPD-Grüne bezogen auf Kernbereiche der neuen Mittelschichten. Merkposten: Das Realo-Manifest würde als Thesenpapier in unserer Programmkommission nicht auffallen.

-Meine Prognose lautet, daß die Grünen einerseits kalkulierbarer werden, andererseits dabei wahrscheinlich an Farbe und Ausstrahlungskraft einbüßen werden. Beides wird von unserer Partei in unsere Überlegungen einbezogen werden müssen.