Neuer internationaler Nestle-Boykott ausgerufen

Unter dem Druck von Aktionsgruppen hatte sich der Konzern zur Einhaltung des WHO-Kodex über Produktion und Vertrieb von Babynahrung schriftlich verpflichtet, hielt sich aber in keiner Weise an seine Versprechen / Vorwurf: Mit Geschenken an Krankenhäuser schafft Nestle Abhängigkeiten und hält Mütter vom Stillen ab  ■  Aus Genf Andreas Zumach

Zu einem neuerlichen Boykott gegen den Schweizer Nestle Konzern, weltweit größter Hersteller von Babynahrung, sowie weitere Firmen dieser Branche haben am gestrigen Dienstag Dritte-Welt-Aktionsgruppen und Verbraucherorganisationen aus Westeuropa und den USA aufgerufen. In der Bundesrepublik sind neben Nestle selbst die Firmen Milupa und Humana von dem Boykott betroffen. Die Unternehmen verletzten nach wie vor den 1981 verabschiedeten Kodex der Weltgesundheitsorganisation WHO für Werbung und Vertrieb industriell gefertigter Babynahrung und seien verantwortlich für den Tod oder die dauerhafte gesundheitliche Schädigung von Millionen flaschenmilchernährter Kleinkinder vor allem in Ländern der Dritten Welt. Das erklärten Vertreterinnen des „Internationalen Babynahrungs-Aktionsnetzwerkes“ (IBFAN) aus über hundert Organisationen in 64 Staaten, der „Aktion für Firmenverantwortlichkeit“ (ACA) in den USA sowie der bundesdeutschen „Aktionsgruppe Babynahrung e.V.“ (AGB) gestern auf Pressekonferenzen in Genf, Washington und Bonn zur Begründung des Boykottaufrufes. IBFAN-Mitgliedergruppen in Australien, Neuseeland und mehreren südostasiatischen Staaten erwägen, sich dem Boykott anzuschließen.

Der WHO-Kodex, dem sich das Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen Unicef angeschlossen hat, beschränkt die kostenlose Abgabe industrieller Babynahrung an Einrichtungen des Gesundheitsdienstes und einzelne Mütter, untersagt aber Werbegeschenke an medizinisches Personal sowie „unangemessene Promotion“ in Krankenhäusern und verpflichtet die Hersteller zu korrekter Beschriftung ihrer Produkte.

In ihrer Broschüre Nestle tötet Babys hatte die Aktionsgruppe „Erklärung von Bern“ bereits 1974 nachgewiesen, daß Mütter vor allem in der Dritten Welt durch die aggressiven Werbe- und Verkaufspraktiken Nestles und anderer Unternehmen vom Bruststillen abgehalten und zur Verwendung industrieller Babynahrung verleitet wurden, ohne über die notwendigen finanziellen Mittel sowie sauberes Wasser und andere Voraussetzungen zur sachgerechten Zubereitung zu verfügen. Unicef-Generaldirektor James Grant bezifferte die Zahl kranker und unterernährter „Flaschenkinder“ kürzlich auf zehn Millionen, von denen jährlich eine Million stürben. Kritische Gruppen sprechen von bis zu drei Millionen jährlich.

In einem von Nestle angestrengten Rufmordprozeß bestätigte ein Schweizer Amtsgericht 1976 in der Sache die Vorwürfe der Gruppe „Erklärung von Bern“, verurteilte sie aber zu einer geringen Geldstrafe, weil der Broschürentitel Nestle tötet Babys Absicht unterstellte. Die daraufhin einsetzende Kampagne, die in den USA ab 1977 auch einen ersten Boykott gegen Nestle einschloß, führte 1981 zur Verabschiedung des WHO/Unicef-Kodex. Auf Druck vor allem des US-Boykotts und nach zahlreichen Anhörungen im US-Kongreß verpflichtete sich Nestle 1984 zur Einhaltung des Kodex und unterzeichnete am 4.Oktober, gestern vor vier Jahren, ein entsprechendes Abkommen mit den Organisationen der US-Kampagne, das zur Beendigung des Boykotts führte. Viele Gruppen vor allem in Westeuropa kritisierten damals den Boykottabbruch lediglich auf Versprechen Nestles hin als verfrüht. Die Skeptiker behielten Recht. Nach Überprüfung der Praktiken Nestles und der 19 nächstgrößeren Babynahrungshersteller in 42 Staaten legten IBFAN und die „Internationale Organisation der Verbraucherverbände“ (IOCU) den Genfer WHO-Vollversammlungen im Mai 1986 und 1988 umfangreiches Beweismaterial für die andauernde Verletzung des WHO-Kodex vor. Nestle und die bundesdeutsche Milupa gehören zu den sechs Firmen, die bei der Untersuchung mit Abstand am schlechtesten abschnitten. Am 28.Juni forderten die US-Gruppen Nestle auf, bis zum gestrigen vierten Jahrestag des Abkommens mit seinen Kritikern einen verbindlichen Plan zur Korrektur seiner Werbe- und Verkaufspraktiken vorzulegen. Andernfalls werde der Boykott wieder aufgenommen. Die westeuropäischen Gruppen schlossen sich dem an. Nestle reagierte auf diese Aufforderung überhaupt nicht.

Der zentrale Vorwurf der Firmenkritiker bezieht sich auf die „Überschwemmung“ von Krankenhäusern und Geburtseinrichtungen mit kostenloser oder preislich stark reduzierter Babynahrung. Der WHO-Kodex erlaubt dies nur in sehr begrenztem Umfang „zur Ernährung von Kindern, die mit Muttermilchersatz gefüttert werden müssen, weil die Mütter nicht stillen können“. Nestle und andere Firmen legen diese WHO-Formel sehr extensiv aus und begründen ihre „selbstlosen“ kostenlosen Lieferungen mit der „schlechten finanziellen Situation“ von Gesundheitseinrichtungen in der Dritten Welt. Nach Beobachtungen vor allem in asiatischen und afrikanischen Staaten hat der Strom kostenloser und preisreduzierter Lieferungen nicht nachgelassen und gelangt nach wie vor oftmals völlig unkontrolliert an die Mütter. Nestle bestreitet dies zwar öffentlich, kann das Gegenteil aber nicht belegen. In einem internen Schreiben von F.X.Perroud aus der Presse- und Informationsabteilung der Konzernzentrale in Vevey am Genfer See an den Nestlebeauftragten in den USA, Thad Jackson, vom 26.Mai 1988, das der taz vorliegt, heißt es zu dieser Frage: „Es liegen keine Daten über die Entwicklung kostenloser oder preisreduzierter Lieferungen seit 1980 vor.“ Man wisse nicht, „inwieweit die gelieferten Produkte nur im Krankenhaus verwendet und wieweit sie den Müttern mit nach Hause gegeben werden“.

Unter dem Druck der Kritik behauptet nun Nestle, das sich 1984 ja zur Einhaltung des WHO-Kodex verpflichtet hatte, daß dessen Durchsetzung und insbesondere die Bestimmung über Lieferungen an Gesundheitseinrichtungen Aufgabe der Regierungen der einzelnen Staaten und nicht der Firmen seien. Dieser Interpretation widerspricht in einem Schreiben vom 23.September entschieden der Leiter der WHO -Rechtsabteilung, S.Shubber. Der Kodex gelte ausdrücklich auch für Produzenten und Lieferfirmen.

Die Babynahrungsfirmen erzielten 1987 weltweit Umsätze von mehr als 6,5 Milliarden Dollar, rund 12 Milliarden Mark. Nach Angaben Nestles machen diese Produkte zwar nur zwei bis drei Prozent der eigenen Umsätze aus. Doch täuscht dieser vergleichsweise gering erscheinende Prozentsatz über die marktstrategische Bedeutung industrieller Babynahrung hinweg. Gerade für Nestle, der Welt zweitgrößter Nahrungsmittelkonzern mit einer sehr breit diversifizierten Produktpalette ist Babynahrung eine „Einstiegsdroge“, die Konsumenten frühzeitig an den Markennamen bindet.

Der neue Boykott richtet sich gegen sämtliche Produkte der Firmen, soll aber in den einzelnen Ländern auf dort jeweils besonders bekannte Artikel konzentriert werden. In der Bundesrepublik gehören dazu unter anderen Nescafe, Nestle -Schokolade oder die Babynahrungsprodukte von Milupa. Vor allem in den USA kommt der Boykott von Nestle zu einem sehr ungelegenen Moment: Erst im Juni hat Nestles dortige Tochterfirma Carnation mittels einer 100-Millionen-Dollar -Werbekampagne begonnen, mit einem Produkt in den dortigen Babynahrungsmarkt einzusteigen.

Weitere Informationen: „Aktionsgruppe Babynahrung e.V.“, Kurze Straße 6, 3400 Göttingen, Tel.: 0551/47129)