Der Tag der Entscheidung

■ Nach 17 Jahren werden die Chilenen wieder nach ihrer Meinung gefragt / Aus Santiago Thomas Schmid

Noch immer können die Chilenen es nicht so recht fassen, daß sie heute tatsächlich die Möglichkeit bekommen sollen, für oder gegen die Fortsetzung der Diktatur zu stimmen. Santiago schwirrt vor Gerüchten, Pinochet könne noch in letzter Minute das Referendum abblasen oder durch ein Attentat unmöglich machen. Je mehr die Meinungsumfragen einen Sieg der Opposition anzeigen, um so größer wird die Angst, daß Pinochet das Ergebnis nicht akzeptieren wird. Wird die Armee nach einem Sieg des No auch gegen den Willen des Diktators verhandeln, oder droht Chile ein neuer Bürgerkrieg?

„Das Geschäft läuft wie noch nie“, freut sich der Kerzenfabrikant Ricardo Guauque, „die Supermärkte bestellen jede Menge. Wer früher zehn Kartons Kerzen anforderte, will jetzt 60.“ Die chilenische Handelskammer warnt vor einer „Kaufpsychose“. Einen Tag vor dem Plebiszit schwirren tausend Gerüchte durch Santiago. Von gekauften Leuten aus dem Armenviertel ist die Rede, die die Regierung ins Zentrum der Hauptstadt karren werde, um dort Unruhen und einen Eingriff der Militärs zu provozieren, oder davon, daß die Regierung noch während des Urnengangs den Sieg Pinochets verkündet und so einen Massenaufstand herbeiführt, um danach die Durchführung des Plebiszits für unmöglich zu erklären.

Vielleicht wird sie auch alles im letzten Moment abblasen, meint ein Soziologe, der aus dem Exil zurückgekehrt ist und auch einen neuen Putsch Pinochets nicht ausschließen mag. „Hast du schon einmal erlebt, daß ein Diktator sich abwählen läßt?“ ist die Standardfrage der zahlreichen Skeptiker. Selbst in Washington scheinen Zweifel an der Lauterheit Pinochets aufgetaucht zu sein. Das US-Außenministerium signalisierte Besorgnis und warnte Pinochet, das Referendum in letzter Minute abzublasen.

Je näher der Tag X, der 5.Oktober, rückt, desto günstiger die Prognosen für die Opposition. Bis auf eine von der Polizei in Auftrag gegebene Meinungsumfrage, die 53 Prozent für das Ja (zu Pinochet) errechnet hat, prophezeien alle Forschungsinstitute, die sich auf das Spiel mit den Prozenten eingelassen haben, einen Sieg des Nein, einen Triumph der Opposition also. Doch niemand traut den Zahlen.

Terror durch

Pinochet-Anhänger

Die Diktatur zieht alle Register, um die drohende Niederlage abzuwenden. Da zieht Pinochet zwei Wochen vor dem Plebiszit ein neues Regierungsprogramm aus der Tasche und verspricht „100.000 neue Wohnungen pro Jahr“, so daß 1997 jede chilenische Familie eine eigene Bleibe hat - falls das Ja gewinnt. Da wird vor dem Bürgerkrieg gewarnt - falls das Nein eintritt. Gerade rechtzeitig wurde noch ein angebliches Aufstandskomplott der Kommunistischen Partei entdeckt. Und daß die 16 Parteien des „Kommando für das Nein“ - von der konservativen Nationalen Partei über die Christdemokratie zur linkesten der verschiedenen sozialistischen Parteien alle nur, gewollt oder ungewollt, Steigbügelhalter für eine kommunistische Diktatur sind, verkündet die Regierung mehr oder weniger explizit jeden Tag im Fernsehen.

Der Diktator hat Kreide gefressen, streichelt in der Pose eines gealterten Opas landauf, landab Kinder und faselt von Demokratie. Doch immer, wenn in der Innenstadt von Santiago ein paar Dutzend Demonstranten auftauchen, sind - ganz wie im Märchen vom Hasen und vom Igel - die Carabineros auch schon da. Am letzten Freitag wurde eine völlig friedliche Demonstration von Frauen, die Bilder ihrer „verschwundenen“ Angehörigen offen zur Schau trugen, unter Einsatz gepanzerter Fahrzeuge, die mit Kampfgas versetztes Wasser spritzten, aufgelöst. Und das Bild der Ruhe und des Friedens, das die Diktatur von sich selbst zeichnet, konterkariert sie gleichzeitig, indem sie Unruhe schürt.

Die größte Gefahr für das Regime scheint in der Tat darin zu bestehen, daß die Leute ihre in 15 Jahren Diktatur hochgezüchtete Angst verlieren. Trotz der ungewöhnlich freien Luft, die man in Santiago zur Zeit atmet, trauen sich nur wenige, ihre No-Buttons offen zu tragen; und als ob diese Angst wachgehalten werden müßte, häufen sich in letzter Zeit Aktionen von Ja-Kommandos und rechtsradikalen Stoßtrupps in geradezu verdächtigem Ausmaß.

Am Donnerstag letzter Woche traf es die Hafenstadt Valparaiso, wo Pinochet gerade auf Wahlkampf war. 20 Bewaffnete in Zivil stürmten den Sitz der Christdemokratischen Partei. Am selben Tag überfiel in derselben Stadt ein Kommando von „Patria y Libertad“, einer rechtsradikalen Gruppe, die schon zur Zeit der Linksregierung von Allende einen beispiellosen Terror entfacht hatte, den Sitz der „Partei für Demokratie“ (PPD). Und die (von der Diktatur eingesetzte) Bürgermeisterin von Las Condes, einem Nobelviertel der Hauptstadt, warnte bereits die Herren von der Opposition, sie möchten doch schon mal die Koffer packen, damit sie nicht wieder so überstürzt abreisen müßten wie 1973.

Werbung

um die Mittelschichten

Das Zauberwort des „Kommando für das Nein“ heißt demgegenüber „Alegria“ (Freude). „Die Alegria ist schon unterwegs“ heißt ihr Slogan, der bei jeder Demonstration gesungen wird. Und das Emblem der Opposition ist ein Regenbogen in Frühlingsfarben. Man sieht in die Zukunft, und wenn man sich schon mal einen Blick in die Vergangenheit gestattet, dann nicht zu den drei Jahren Allende-Regierung, sondern weitere zurück in die Ära des Christdemokraten Frei. Man weiß, daß die Mittelschichten, die es zu gewinnen gilt, die „Unidad Popular“ Salvador Allendes mit Chaos und Käuferschlangen gleichsetzen.

Zudem sind im „Kommando für das Nein“ ja die nationale Partei und die sozialistische Partei unter einem Dach vereinigt. Die eine hatte den Putsch verlangt, die andere fiel ihm zum Opfer. Sprecher des Bündnisses ist überdies Patricio Aylwin, der zu Zeiten Allendes die Militärs ziemlich unverblümt zur Intervention aufgefordert hatte.

Einer störte in gewisser Weise die große Harmonie, die sich in der Opposition breitmacht: Volodia Teitelboim. Als der Schriftsteller und kommunistische Ex-Senator vor zwei Wochen aus dem 15jährigen Exil zurückkehrte, forderte er dazu auf, den Sieg des Nein auf der Straße zu verteidigen. Er sprach von einer „demokratischen Volkserhebung“, die den Übergang zur Demokratie einleiten müsse. Der Chefideologie und zur Zeit zweifellos wichtigste Kopf der Partei sagte damit nur, was schon seit geraumer Zeit die Position der Kommunisten ist, doch rief er bei den übrigen Parteien einen Sturm der Entrüstung hervor. Patricio Aylwin erklärte öffentlich, Teitelboim habe sich damit „objektiv zum Komplizen Pinochets“ gemacht, und nachdem die Regierung von einem kommunistischen Komplott zur „gewaltsamen Machtergreifung“ zu reden begann, distanzierten sich auch die Linkssozialisten von den Äußerungen Teitelboims. Doch die Kommunistische Partei stellte sich in einem Dokument in aller Deutlichkeit hinter ihren angegriffenen Führer.

Spaltung der Opposition

Hinter der Querele um Teitelboim verbirgt sich eine grundsätzliche Spaltung der Opposition. Die Kommunistische Partei, die heute allerdings so isoliert wie nie zuvor in der politischen Landschaft Chiles steht, gehört dem „Kommando für das Nein“ nicht an. Die Christdemokraten, die das Parteienbündnis eindeutig beherrschen, haben den Kommunisten den Zutritt zur Allianz immer mit der Begründung verwehrt, sie habe sich nicht von der Gewalt distanziert und sich zudem zu spät dafür entschieden, zur Teilnahme am Plebiszit aufzurufen. Doch der Christdemokratie, die mit einigen weiteren Parteien des Zentrums unter Ausschluß selbst der moderaten Sozialisten bereits eine alternative „Regierungskoalition“ gegründet hatte, geht es um mehr. Sie hofft darauf, daß die Militärs nach einer Niederlage Pinochets bereit sind, einen wie auch immer gearteten Übergang zur Demokratie auszuhandeln.

Das würde vor allem eine Veränderung der Verfassung voraussetzen, aufgrund der Pinochet auch bei einer Niederlage ein weiteres Jahr im Amt bleibt, bis dann - ohne Beteiligung der Kommunisten - ein Präsident und ein Parlament gewählt werden, die unter der direkten Kontrolle der Militärs stünden. Der Bruch mit dem erklärten Erzfeind der Diktatur, dem Kommunismus, soll den Militärs den Weg zu Verhandlungen ebnen.

Die Kommunisten ihrerseits, unter Allendes Regierung legalistischer als die Sozialisten und immer zur Öffnung nach rechts bereit, haben sich in den Jahren der Diktatur radikalisiert. Dies vor allem auch, weil sich ihre Basis von der traditionellen Arbeiterschaft, die über die monetaristische Wirtschaftspolitik zu einem großen Teil wegsaniert wurde, weg in die Poblaciones, die Armenviertel der Hauptstadt, verlagert hat. Zumindest unter den Jugendlichen ist dort die Bereitschaft zur Gewaltanwendung nicht zu übersehen. Es sind auch gerade diese Viertel, die der repressiven Gewalt der Militärs - in der Regel fernab von jeder Öffentlichkeit - am meisten ausgesetzt sind. Und auf diese Basis muß die Kommunistische Partei Rücksicht nehmen.

Die Äußerungen eines Teitelboim werden da durchaus als Signal verstanden für einen anderen Weg, der zwar an Verhandlungen mit den Militärs auch nicht vorbeikommt, diese aber aus einer Position der Stärke heraus führen will, die sich nicht allein auf das Votum beim Plebiszit stützt. So verweisen die Stellungnahmen der Kommunisten nicht weniger als die der „Regierungskoalition“ des Zentrums nur darauf, daß bereits die Startlöcher für den Tag danach gegraben werden.