Aids in New York City

■ Dort, wo die Krankheit zum ersten Mal auftrat, hinkt ihre Bekämpfung weit hinterher / Selbsthilfegruppen konzentrieren sich auf das Testen neuer Medikamente / Der Kampf wird in den Ghettos der Bronx und Brooklyns entschieden

Andreas Salmen

Dort, wo die Krankheit zum ersten Mal auftrat, hinkt ihre Bekämpfung weit hinterher / Selbsthilfegruppen konzentrieren sich auf das Testen neuer Medikamente / Der Kampf wird in den Ghettos der Bronx und Brooklyns entschieden

Andreas Salmen

Es ist einer dieser drückend-heißen Sommertage in New York City. Rund um das Rathaus der Stadt, das sich nahe der Wall Street 30 Stockwerke in den Himmel reckt, verteilen Mitglieder der Aids-Aktionsgruppe ACT UP Flugblätter gegen die Politik der Stadtverwaltung: „Was tut der Bürgermeister zu Aids? Er tut nicht genug!“ Der Durchschnitts-New Yorker, der jetzt gegen halb fünf auf dem Weg nach Hause ist, wird aufgefordert, sich der picket line rund um das alte Hochhaus anzuschließen. Heute fordern die 200 Demonstranten der Aktionsgruppe, die durch spektakuläre Verkehrsblockaden und andere gezielte Regelverletzungen bekannt wurde, auf zahlreichen Bettüchern: „Someone with Aids needs a bed.“ Laut ACT UP leben rund 2.000 New Yorker mit Aids auf der Straße. Die Stadtverwaltung spricht offiziell nur von 350 obdachlosen Aids-Kranken, aber auch dort ist hinter vorgehaltener Hand von weit über 1.000 die Rede.

1981 wurden in New York die ersten Aids-Fälle überhaupt auf der Welt diagnostisziert. Dennoch ist Aids-Politik in New York vor allem eine Kette von Skandalen und Versäumnissen. Bis heute sind hier über 16.000 Aids-Fälle gemeldet worden, und über die Hälfte dieser Menschen lebt noch. Jeder vierte Aids-Kranke in den USA ist ein New Yorker. Dennoch gibt die Zehnmillionenstadt mit 30 Dollar pro Einwohner nicht halb soviel Geld für Aids aus, wie das kleine San Francisco an der Westküste. Während dort sehr früh mit warnender Aufklärung zu Aids begonnen wurde, kann man noch heute wochenlang durch New York laufen, ohne Aufklärungsplakate zu entdecken oder ein Faltblatt in die Hand gedrückt zu bekommen.

Als Verantwortlicher dieser Politik der Ignoranz gilt ACT UP New Yorks bürgermeister Ed Koch. Die Gesundheitsverwaltung der hochverschuldeten Stadt versucht das problem mit Zahlenmanipulationen in den Griff zu bekommen. Während Prognosen der Aids-Hilfsorganisationen von weit über 100.000 Aids-Kranken in New York im Jahre 1991 sprechen, errechnete die Verwaltung in einem kürzlich veröffentlichten Fünfjahresprogramm zu Aids ganze 43.000. Da durch Studien feststeht, daß jeder dritte Schwule in New York mit dem Aids-auslösenden HIV-Virus infiziert ist und die Prognosen hinsichtlich der Zahl der Infizierten, die schließlich an Aids erkranken, immer pessimistischer werden, manipulieren die Behörden an anderer Stelle. Nur zwei bis drei Prozent der New Yorker Männer seien homosexuell, verbreitet man, obwohl durch sexualwissenschafltiche Studien schon in den 40er Jahren nachgewiesen wurde, daß rund fünf Prozent aller Männer manifest homosexuell sind. In New York

-Welthauptstadt des schwulen Lebensstils der 70er Jahre dürfte dieser Anteil noch weit höher liegen. Prognosen bezüglich der Ausbreitung der HIV-Infektion in den New Yorker Elendsvierteln Bronx und Brooklyn wagt noch niemand. Fest steht jedoch, daß bereits heute mehr als die Hälfte der neugemeldeten Aids-Fälle nicht mehr Schwule, sondern Schwarze und Hispanics aus diesen Bezirken sind. 1991 soll bereits jedes heute in New York verfügbare Krankenhausbett mit einem Aids-Patienten belegt sein, und findet man nicht doch noch ein Medikament, wird in den nächsten 15 Jahren jeder 25. New Yorker an Aids sterben. Keine Freiwilligen für Tests?

„Silence Death“ ist das passende Erkennungszeichen der „Aids Coalition to Unleash Power“ (ACT UP) (Aids-Koalition zur Stärkung der eigenen Macht“), die im Mai 1987 gegründet wurde, Das Symbol der Gruppe drückt die Verzweiflung angesichts des Ausmaßes der Aids-Krise in der Stadt aus, andererseits signalisiert es mit seinem kampfbereit nach oben gerichteten rosa Winkel Entschlossenheit. Waren es anfangs gerade hundert Menschen, die sich jeden Montag abend im Schwulen- und Lesbenzentrum der Stadt im Greenwich Village versammelten, so sind es heute über 400. Die meisten sind Schwule, viele von ihnen selbst mit dem Virus infiziert oder Aids-krank. Aber auch einige Frauen sitzen in der Menge, und auch eine Gruppe der Mahnwache zur Obdachlosensituation in der Stadt wird mit Applaus begrüßt. Obwohl der große Versammlungsraum des Zentrums die Menge kaum fassen kann und es unerträglich heiß ist, herrscht völlige Ruhe, als einzelne Mitglieder der Koordinationsgruppe von den Aktionen der letzten Woche berichten, in der sich ACT UP auch an einer großen Friedensdemonstration anläßlich der UNO-Sondersitzung über Abrüstung beteiligte.

Die Gruppe will ein Projekt unterstützen, das alle laufenden Testreihen für Aids-Medikamente erfassen will. „Drugs“: Dieses Wort werde ich in den nächsten Tagen noch des öfteren hören. Viele der vom Aids-Tod bedrohten setzen Hoffnungen auf eine Reihe von Medikamenten, die wenigsten von ihnen sind bereits klinisch erprobt. Die US -amerikanische Gesundheitsbehörde „Food and Drug Administration“ (FDA) - so der Vorwurf von ACT UP und anderen Schwulenorganisationen - teste vielversprechende Aids-Medikamente zu langsam oder gar nicht. Und tatsächlich mußte Dr.Anthony Fauci, Leiter des „Nationalen Gesundheitsinstituts“ vor kurzem öffentlich zugeben, daß in den letzen zwei Jahren verschiedene Versuchsreihen, für die Gelder zur Verfügung standen, nicht durchgeführt werden konnten, da man keine Teilnehmer für die Tests hätte finden können. Die Betroffenenorganisationen wie ACT UP machen dafür die abgehobene Arbeitsweise der FDA und die Nichtzusammenarbeit mit den Aids-Hilfsorganisationen verantwortlich.

Dieses Wochenende will die New Yorker Gruppe nun gemeinsam mit Aktionsgruppen aus anderen Städten die FDA-Zentrale in Washington blockieren. Seit dem „March on Washington“ im letzten Oktober, zu dem die amerikanische Schwulen- und Lesbenbewegung über eine halbe Million Menschen mobilisieren konnte, entstanden auch in anderen US-Städten Gruppen nach dem Vorbild von ACT UP. Mittlerweile koordiniert man die Aktivitäten in einem bundesweiten Zusammenschluß namens ACT NOW. Alle Medikamente testen!

Zwei Tage später treffe ich mich mit Bradley Ball, Verwalter von ACT UP, an seinem Arbeitsplatz beim Mediengiganten NBC. Noch bevor wir mit dem Gespräch beginnen, piept eine kleine Pillendose. Bradley entnimmt drei Kapseln und schluckt sie mit etwas Wasser. Er ist selbst HIV-infiziert und nimmt seit Anfang des Jahres das Aids-Medikament AZT. Es soll, so seine Hoffnung, den Ausbruch von Aids verzögern, doch über die Langzeitwirkungen des hochgiftigen Medikaments gibt es bislang nur Vermutungen. „Ich habe mich für AZT entschieden, weil es ein geprüftes Medikament ist, und so zahlt es meine Versicherung vollständig. Ich habe zwar noch keine richtigen Aids-Symptome, aber ich bin auch nicht mehr in der Aids -Vorstufe ARC. Der Übergang ist so unscharf.“ Bradley hat nur noch die Hälfte der Normalzahl der T-Helferzellen im Blut, die für die Bekämpfung von in den Körper eingedrungenen Erregern zuständig sind. Neben AZT nimmt er noch ein Vorbeugemittel gegen die Aids-typische Lungenentzündung, Haupttodesursache bei der Immunschwächekrankheit. „Noch vor einem Jahr hätte ich es als größten Fehler meines Lebens bezeichnet, den Test gemacht zu haben. Bis dahin hat man nur gewartet, bis man krank wurde, aber heute kann man zumindest versuchen, etwas zu tun, und vielleicht ist es besser, seinen Immunstatus zu kennen. Der Test ist keine Frage mehr von entweder-oder. Und das macht es heute schwieriger.“

Warum ist er in ACT UP aktiv? „Am Broadway lief vor wenigen Jahren ein Theaterstück zu Aids mit dem Titel 'As Is‘. Es war sehr tränenrührend gemacht, aber ich erinnere mich, daß ich dasaß und absolut nichts fühlte, während jeder andere um micht herum weinte. Damals merkte ich zum erstenmal, daß ich über Aids nicht mehr weinen kann: Seit acht Jahren sterben nun Freunde und Bekannte, und ich habe alle meine Tränen verbraucht. Aber wenn du nicht mehr weinst, brechen Ärger und Wut hervor.“ Weil es keinen Ort gab, an dem man diesem Ärger hätte Luft machen können, entstand schließlich ACT UP. Was sind die Ziele? „Wir sind von der Forderung ausgegangen, all diese Medikamente, die existieren, auch wirklich zu testen und sie erhältlich zu machen. Das wird wohl unser Hauptziel bleiben, aber Aids ist wie eine chinesische Puzzle -Box: Du hast dieses kleine Thema und öffnest es und findest ein Dutzend weiterer Themen, die wiederum jeweils ein Dutzend neuer Themen und Zusammenhänge enthalten. Es geht nicht nur um Medizin, es geht um die Regierung, um Gesetze, um Versicherungen, um die Industrie, um Sexualität, das Militär ist betroffen, es geht um Schwule, Fixer, Frauen, um Weiße und Schwarze. Das macht es sehr schwer für ACT UP, sich ein einziges Ziel zu setzen.“

Sehr schnell stieß ACT UP auf soziale Fragen: „Man muß über das Gesundheitssystem dieses Landes reden. Die USA haben die schlechteste Bilanz öffentlicher Gesundheitsversorgung aller industrialisierten Länder. Ich bin in West-Kanada aufgewachsen, und für mich ist die größte Sache, die ein Land seinen Bürgern bieten kann, eine umfassende medizinische Versorgung. Dann kommst du hier in die USA und mußt diese ungeheuren Preise schon für die grundlegende Versorgung zahlen. Und wir reden bei Aids wie über eine Krankheit, die wie eine Katastrophe plötzlich hereinbrach.“ Das Baileyhouse-Projekt

Die Gruppe hat aber auch Kritiker. Michael Petrelis, früher selbst in ACT UP: „Die Gruppe zielt einfach in die falsche Richtung. Sie rennen Ed Koch oder irgendwelchen Bundesbehörden hinterher, anstatt wirklich etwas zu ändern. Zum Beispiel in der Obdachlosenfrage. Für über 1.000 obdachlose Kranke gibt es gerade 44 Betten, die die Stadt bislang zur Verfügung stellt. ACT UP macht Koch dafür verantwortlich, aber es ist nicht so einfach. Er hat für Steigerungen im Aids-Budget votiert, die ihm der Stadtrat dann wieder gestrichen hat. Nun geht es darum, in Gesprächen mit einzelnen Komitees durchzusetzen, daß Gelder für die Obdachlosen-Probleme zur Verfügung stehen, aber bei den konkreten Verhandlungen, da ist ACT UP nicht mehr dabei. In dieser Stadt werden im Moment monatlich 455 neue Aids-Fälle registriert, und in jedem Monat steigt auch die Zahl der Kranken ohne Wohnung.“ Petrelis lebt im Baileyhouse, dem bislang einzigen Haus, in dem obdachlose Aids-Kranke ein Zuhause finden können. Er gehörte zu einer Gruppe, die vor zwei Jahren eine Mahnwache vor dem leerstehenden Hotel in der Christopher Street begannen, um die Stadt zu zwingen, das Gebäude zu kaufen. Aus Angst vor dem Skandal, den der Anblick sterbender Aids-Kranker mitten auf der legendären Schwulenstraße ausgelöst hätte, lenkte die Stadt schließlich ein. Doch Baileyhouse, in dem heute 14 kranke Schwule und 30 Fixer leben, blieb seitdem die einzige Einrichtung ihrer Art, die die Stadt unterstützt. „Wir brauchen viele Baileyhouses in den verschiedenen Bezirken, vor allem in Brooklyn und der Bronx, damit die Leute nicht mehr auf der Straße verrecken.“ Daß es nicht leicht ist, derartige Einrichtungen gerade in Stadtteilen mit viel unterschichtsangehörigen zu öffnen und man auch Informationskampagnen braucht, weiß Petrelis. „Bevor das Haus hier aufmachen konnte, gab es auch erstmal Proteste der Anwohner: Der Müll könnte verseucht sein und die Moskitos, die vielleicht Aids übertragen könnten.“ Einkaufskooperative

für Aids-Medikamente

In den noch spärlich eingerichteten Räumen der „People with Aids Health Group“ herrscht mittwochs große Geschäftigkeit. Gerade erst ist man gemeinsam mit anderen Organisationen für und von Menschen mit Aids in das Bürogebäude in der 26. Straße im Westen Manhattans eingezogen. Doch das wichtigste Inventar - vier große Kühlschränke - steht bereits an der Wand, und deren Türen werden heute nachmittag auf- und zugeklappt. Mittwoch ist Verkaufstag der Health Group, die drei Substanzen verteilt, die die Ausbreitung des HIV-Virus bremsen oder stoppen sollen. Alle drei Mittel sind bislang nicht in klinischen Versuchen auf ihre Wirksamkeit im Menschen überprüft worden, dennoch verkauft die Health Group bereits große Mengen der Stoffe an Kranke und Infizierte. „Nach der Gründung der Gruppe im Februar letzten Jahres haben wir einen Monatsumsatz von 5.000 Dollar gemacht, heute sind es zwischen 30. und 75.000 Dollar jede Woche.“ Die verkauften Substanzen, berichtet Bürochef Tom Wilcox, gelten als diätetische Lebensmittel, und in Zweifelsfällen hält sich die FDA zurück, wie bei dem aus Japan importierten Dextran Sulfate, daß dort als Medikament für Herzkranke eingesetzt wird. Der Status der Health Group und ähnlicher Initiativen in anderen Städten als Einkaufskooperativen der Kranken, die ohne Profit arbeiten, ist hier entscheidend. Als die Gruppe vor eineinhalb Jahren mit dem Verkauf des aus Eiern bestehenden AL-721 begann, mußte noch jeder Besteller im Voraus bezahlen. Das ist nun aufgrund des großen Umsatzes unnötig geworden: Die Gruppe funktioniert heute wie ein Laden, in dem man kauft, was man braucht.