Unfaßbares Auschwitz

■ Berliner SchülerInnen besuchen die Vernichtungslager Auschwitz und Birkenau / „Wer Auschwitz gesehen hat, wird kein Faschist“

Das Unternehmen hat etwas von Auschwitz-Tourismus. Außer den 250 SchülerInnen aus Berlin folgen noch Japaner, Polen und Israelis der im ehemaligen Vernichtungslager ausgeschilderten „Sight-Seeing-Route“. Manche SchülerInnen machen Photos, was andere wiederum erschaudern läßt. Sie versuchen Ausschwitz gerecht zu werden, indem sie sich über ihrer Meinung nach deplazierte Alltäglichkeiten entrüsten: über den stinkigen Rauch, der aus dem Schornstein eines Hauses in der Nähe des sogenannten „Stammlagers“ steigt, oder über die schwarzen Uniformen, die eine Gruppe polnischer Besucher trägt.

Der zum Ohrwurm gewordene Satz: „So etwas darf nie wieder passieren!“ löst inzwischen nicht weniger Unbehagen aus als das Weinen einiger Mädchen. Kaum ein Verhalten erscheint an diesem Ort angemessen.

„Wer Auschwitz gesehen hat, wird kein Faschist“, sagt einer der mitgereisten Jusos (die realität sieht da ja wohl anders aus. sezza). Die SPD-Jugendorganisation hatte die viertägige Fahrt wegen des aufkeimenden Neonazismus an den Berliner Schulen organisiert. Seit Januar diesen Jahres gibt es den einstimmig gefaßten Parlamentsbeschluß, daß Schüler eine Reise zu einem Konzentrationslager, insbesondere Ausschwitz, ermöglicht werden soll.

In drei Tagen kommt die nächste Gruppe. Dann waren innerhalb einer Woche insgesamt 500 Jugendliche in Auschwitz. Zwei geladene Fernseh-Teams begleiten die fünf Busse, in denen noch einmal ein halbes Dutzend schreibender Journalisten sitzt.

Auf einem Seminar wurden die 12- bis 18jährigen SchülerInnen vor einigen Wochen durch Vorträge und Diskussionen über Ausschwitz auf die Reise vorbereitet.

Auf der Fahrt zum KZ sind sechs Mädchen in ihre mitgebrachte Lektüre vertieft: Werke von Stanislav Lem, Jean Paul Sartre oder Hermann Hesse. Erst kurz vor dem Tor „Arbeit macht frei“, als alle Geräusche im Bus schlagartig verstummen, blicken sie auf und klappen die Bücher zu. Schweigend gehen die Jungen und Mädchen von Block zu Block, wo ihnen ehemalige Häftlinge Berge von Haaren, Schuhen, Bürsten, Brillen, Prothesen zeigen. Als wolle er die SchülerInnen von der Wahrheit überzeugen, rechnet einer der ehemaligen Häftlinge vor: „Wenn nur jeder Zehnte im Lager eine Brille getragen hat, dann starben hier...“ Warum rechnet er? Mit Zahlen läßt sich Auschwitz nicht fassen. Im Keller von Block 21 wurde erstmals eine Vergasung mit Zyklon B erprobt. Hier befinden sich auch die 80 mal 80 Zentimeter großen „Stehzellen“. Es ist dunkel und stickig. Wer in diese Zelle gequetscht wurde, befand sich ganz unten.

Dennoch sagen einige Schüler später, daß sie sich „nichts vorstellen“ können, weil „die Menschen im Lager fehlen“. Die gleichen Jugendlichen sind allerdings der Ansicht, daß man „auf so einer Fahrt viel mehr über die Geschichte lernt“ als aus den Schul-Geschichtsbüchern“. Auf die von den mitgereisten Journalisten immer wieder gestellte Frage, was Ausschwitz bei ihnen bewirke, antworten viele mit „Erschütterung“. Ein Mädchen fragt ungehalten: „Was wollen Sie hören?“ (na endlich! sezza)

Nach dem Besuch des Stammlagers Auschwitz am Vormittag war die Stimmung gedrückt; jetzt am Abend im Bus unmittelbar nach dem Besuch des Vernichtungslagers Birkenau wirkt sie gelöst. Bei einigen entlädt sich der psychische Druck durch Lachsalven. Viele schweigen auch. Versuchen sie nachzuvollziehen, wie es ist, in zugigen Baracken dahinzuvegetieren, wie es ist, auf den Weg von der Rampe zur Gaskammer geschickt zu werden? Und wieviele versetzen sich in die Rolle der Capos oder SS-Männer?

„Wenn nur 30 Prozent der jungen Leute auch nach dem Besuch darüber nachdenken, was ein Mensch dem anderen antun kann, dann war die Fahrt ein Erfolg“, sagt Tomasz Pryll, der polnische Jugendleiter, der für die Schüler dolmetscht. Am nächsten Tag fahren freiwillig noch einmal 70 Schüler nach Auschwitz, um „die Eindrücke zu vertiefen“. Weitere 20 nehmen an Gesprächsrunden teil über Vergangenheitsbewältigung und deutsch-polnische Ausssöhnung. 90 SchülerInnen von 250 SchülerInnen, das sind sogar mehr als 30 Prozent.

Elisa Klapheck