MACHU PICCHU

■ Im Reich der Inka

Dann bin ich auf der Leiter der Erde aufgestiegen,

durch das feindliche Dickicht der entlegenen Wälder,

bis zu dir hin, Machu Picchu,

hohe Stadt aus steinernen Stiegen. (Pablo Neruda

Der letzte Steilhang ist tückisch. Mit verbissener Konzentration schleppen wir uns die glitschigen Steintreppen hinauf, unendlich langsam trotz der Angst vor der nahen Dunkelheit. Kaum einen Schritt entfernt verbirgt sich der Abgrund hinter dichtem Gestrüpp - wer hier ausgleitet, stürzt mehrere hundert Meter in die Tiefe.

Naß von Schweiß und dem feinen Regen, der inzwischen eingesetzt hat, erreichen wir „Puerta del Sol“, die Ruinen des Sonnentors. Hier - zwischen Steinmauern und befestigten Terrassen - wird unser letztes Nachtlager sein. Und endlich sehen wir sie: Machu Picchu, die Sonnenstadt, Zeugnis verschwundener Völker, Rätsel aus Stein. Verschwommen und unwirklich in der Dämmerung schmiegt sie sich zwischen den Gipfeln der beiden „Picchus“ in die gegenüberliegende Bergkette, getrennt von unserem Aussichtsplatz durch die Schlucht, an deren Grund der Urubamba fließt, und durch eine halbe Stunde Fußweg abwärts über den verbindenden Hang, den letzten Abschnitt des Inkapfades.

Die Nächte in den Anden sind kalt und bei bewölktem Himmel pechschwarz. Fröstelnd versammeln wir uns am Unterstand der Bergführer - sie wollen uns von der Stadt erzählen. „Die spanischen Conquistadoren haben sie nie gefunden“, berichtet einer der Peruaner. „Sie suchten die Schätze unten am Fluß, blickten zu den Gipfeln hinauf und sahen nichts. Das Reich der Inkas wurde vernichtet und Machu Picchu, die unsichtbare Stadt, von der Welt vergessen. Bis 1911 der Engländer Hiram Bingham, geführt von einem Indio-Jungen, ihre Ruinen entdeckte. Seither kamen Hunderte von Wissenschaftlern. Sie suchten Beweise für ihre Theorien, die sie dann als die „einzig denkbaren“ in der Welt verbreiteten. Doch die Fragen blieben unbeantwortet: Wer erbaute diese Stadt? War sie Hauptstadt, Festung, Heiligtum oder alles zugleich? Und schließlich: Wohin verschwanden ihre Bewohner? Starben sie durch Epidemien oder Kriege? Verließen sie ihre Stadt und flohen in den Urwald? Niemand konnte Machu Picchu sein Geheimnis entlocken. Alles, was wir wissen, ist Vermutung oder Legende.“ Bis spät in die Nacht lauschen wir den Geschichten - bis wir müde und warm vom Zuhören in unsere Zelte kriechen.

Am Hotel „Las Turistas“ muß jeder vorbei: Wenn der Zug unten im Tal hält, stehen schon Kleinbusse bereit, um die Touristen auf der zickzackförmigen Sandstraße den Berg hinauf zum Hotel zu fahren. Von Cola und Sandwich gestärkt, ergießen sich die Touristen über die Ruinen - angeführt von spanisch oder englisch referierenden Fremdenführern. Die Wächter stehen schon bereit und bitten uns zur Kasse. Brav lösen wir unsere Eintrittskarten und geben die Rucksäcke ab. Wir haben es eilig. Noch ist es früh genug für einen ersten Spaziergang: Später am Vormittag wird sich die stille Stadt in einen Jahrmarkt der Sensationen verwandeln.

Ziellos wandere ich durch die steilen Treppenstraßen und erliege der Faszination der Steine: Gigantische Quader aus hellem Granit, vollkommen geglättet und haargenau ineinandergepaßt. Die Inkas kannten und brauchten keinen Mörtel; sie bauten ihre Städte für die Ewigkeit.

Doch wie gelangten die tonnenschweren Felsblöcke auf den 2.300 Meter hohen Bergrücken? Ich versuche, mir vorzustellen, wie Zehntausende von Arbeitern die Steine mit Seilen über schmale Bergpfade schleppen. Viele sterben unterwegs an Erschöpfung, andere werden - wenn ein Seil reißt - zermalmt oder in die Tiefe geschleudert. Jahre der Qual, vielleicht Jahrhunderte. Und dann: Unendlich mühselig ist das Polieren des rohen Steins - immer unter den Augen der Bauherren. Nach ihrer strengen Anweisung werden die Elemente aufeinander getürmt. Terrassen, Tempel, Plätze, Paläste und Wohnhäuser - eine Stadt von geometrisch exakter Vollkommenheit entsteht. Die Legende besagt, Machu Picchu sei ein Werk der Götter.

Um 11 Uhr beginnt die Invasion der Massen. Doch noch ist es einsam auf dem größten künstlichen Hügel der Stadt. 70 Stufen sind es bis zur Spitze der in 14 Plattformen ansteigenden Pyramide. Dort, auf einem kleinen Platz, befindet sich der Intihuatana, ein gewaltiger, vollständig geometrisch zugeschnittener Fels.

Ich bleibe nicht lange allein: Schon schwappt die erste Touristenwoge über den Hügel - US-amerikanisch bunt und laut. Mit Kamera-Klicken, Kichern, Plaudern und vielen „Ohs“ und „Ahs“ - nur die Fremdenführer schaffen es mit ihren Vorträgen, den Lärm zu übertönen. Und sie wissen genau Bescheid: „Eine prismatische Sonnenuhr ist er, ein astronomisches Observatorium.“ „Falsch - die Mauern im Osten behindern ja den Sonneneinfall.“ „Nein, gerade nicht: Die trapezförmigen Fenster machen das System erst komplett.“ „Trotzdem: Er war in Wirklichkeit ein Opferstein. Tieren und, Sie werden es nicht glauben wollen, auch Kindern wurden hier Herz und Eingeweide herausgerissen, damit der Wahrsagepriester die Vorzeichen aus ihnen lesen konnte.“ „Unsinn: Am Vorabend des Sonnenfestes „Inti Raymi“ wurde die Sonne symbolisch an den Stein gekettet, um zu verhindern, daß sie für immer nach Norden entschwand“...

Heftig diskutierend rollt die Woge weiter, den Hügel hinab. Zwischen den Ruinen teilt sie sich in kleine Rinnsale, um auf dem großen Platz wieder zusammenzufließen und sich schließlich vor der brennenden Sonne auf die Hotelveranda zurückzuziehen.

In der Mittagshitze wird es still in Machu Picchu. Zeit für einen Streifzug. Ich beginne in der oberen Stadt Hanan bei den Palästen der Elite: Man sagt, Adlige, Offiziere und Priester regierten von hier aus mit der Unterstützung von Heilkünstlern, Wahrsagern und Geisterbeschwörern die Stadt. Ganz oben in der Hierarchie stand der Inka als Gottmensch und Vermittler zwischen Himmel und Erde, ihm zur Seite der Oberpriester und die Sterndeuter als wissenschaftliche Autorität. Macht und Magie bestimmten nach dem Lauf der Gestirne das Leben im straff organisierten Inka-Staat.

Ich verlasse den Bezirk auf der „Treppe der Quellen“, um die berühmten Bäder zu sehen. Bottiche, Zisternen und monolithische Wannen, stufenweise angeordnet in einer abfallenden Reihe, bilden ein raffiniertes hydraulisches System. Vom Gletscher des Salccantay wurde das Wasser in Rinnen und unterirdischen Rohren in die Bäder geleitet. Man vermutet, daß sie den rituellen Waschungen der Sonnenjungfrauen vorbehalten waren. Über die Unschuld dieser „Gemahlinnen des Sonnengottes“ wachten strenge Priester: Eine unkeusche Sonnenjungfrau wurde lebendig begraben, ihr Verführer gehängt, heißt es.

Von den 163 Mumien, die auf dem Friedhof gefunden wurden, waren 150 weiblich. Ein weiteres Rätsel: War die Stadt zuletzt ein Kloster? Versteckten sich hier, bewacht von einigen Priestern, die heiligen Jungfrauen, um so der Vergewaltigung durch die Spanier zu entgehen? Zumindest wäre es eine plausible Erklärung für das Aussterben der Bewohner Machu Picchus...

Die Treppe führt mich weiter nach Hurin, der unteren Stadt. Im „Gefängnisviertel“ und dem sich anschließenden Wohnviertel der Handwerker und Bauern herrscht eine düstere Atmosphäre. Die Nichtadligen lebten in planlos angeordneten, fensterlosen Behausungen - Hurin war offensichtlich nicht nur geographisch die untere Stadt. Ober- und Unterstadt trennt ein riesiger Platz, der Intipampa. Was für Szenen mögen sich hier abgespielt haben? Markttage und feierliche Prozessionen, Wettkämpfe, Schauspiel und Tanz, Erntefeste, auf denen Maisbier in Strömen floß, und Gerichtsverhandlungen - die Vollstreckung von Todesurteilen unter dem Gejohle der Zuschauer. Heute ist der Intipampa Spielplatz für besichtigungsmüde Kinder und Weidefläche des letzten Bewohners von Machu Picchu: einem zottigen Lama.

Müde und benommen mache ich mich auf den Weg zu meinem letzten Ziel: Huayna Picchu, der „kosmische Berg“. Er begrenzt die Stadt mit seinem zuckerhutförmigen Gipfel im Süden. Der Aufstieg übertrifft alle Strapazen der letzten Tage: Steile Treppen winden sich durch tropisches Pflanzendickicht, unterbrochen von Tunneln, die man nur kriechend bewältigt. Die Luft vibriert von Hitze und Schwärmen bissiger Insekten. Plötzlich mündet der Pfad in ein Meer von geborstenen Felsen: Massive Blöcke zwischen riesigen Plattformen und - direkt vor mir - eine großartige Konstruktion, zerbrochen und umgestürzt, als hätte ein Blitz in sie eingeschlagen. Ich stehe am Sonnenthron, dem höchsten Beobachtungsposten Machu Picchus. Von ihm überblicke ich die ganze Stadt und weiter - das gesamte heilige Tal der Inka. In der anderen Richtung sehe ich die Urwälder, wo unter dicht bewaldeten Kuppen vielleicht noch andere verschollene oder vergessene Städte verborgen liegen. Nur die um den Gipfel ziehenden Wolken versperren für Augenblicke die Sicht. Hier wird der Traum wahr, unsichtbar zu sein und dennoch alles zu sehen.

In der zeitlosen Stille dieses Ortes vergesse ich Wissenschaft und Legende. Es bleiben die Gedichte von Pablo Neruda und ein Satz von Fernando Belaunde Terry: „Auf der Suche nach einem Horizont stiegen die alten Peruaner bis zum Gipfel empor, weil sie verstanden, daß die Seele mehr Raum braucht als der Körper.“

Helle Götz