„Ein Mafiakrieg fällt nicht vom Himmel“

Italiens „Ehrenwerte Gesellschaft“ nutzt die politischen Querelen ihrer Gegner zur Generalabrechnung / Mordserie soll verlorengegangenes Vertrauen in die Paten wiederherstellen / Mafiagegner erklären bereits die „Normalisierung“ der Lage in Sizilien - der Schuß ging nach hinten los: 150 Tote seit Jahresbeginn  ■  Aus Palermo Werner Raith

Alfonso Giordano, Präsident der ersten Sektion des Schwurgerichts Palermo, gehört an sich nicht zu den Trübsalbläsern. Eine Engelsgeduld hat er an den Tag gelegt, als er fast zwei Jahre lang über den jeweiligen Kriminalitätsgrad von gut vier Hundertschaften mutmaßlicher Mafiosi zu verhandeln hatte, immer freundlich hat er mit allen gesprochen und verzweifelte Zeugen wieder aufgerichtet. Diesmal jedoch hat der Richter selbst nichts als Verzweiflung im Gesicht, kein Lächeln, nicht einmal einen freundlichen Gruß für die Beamten des juristischen Protokolldienstes. Giordano hinterlegt in der Kanzlei des Justizpalastes Palermo die Urteilsbegründung für die neunzehn „Lebenslänglich“ und zweieinhalb Jahrtausende Gefängnis im ersten „Maxi-Prozeß“, den er kurz vor Weihnachten 1987 abgeschlossen hat. 6.901 Seiten sind es geworden - doch Giordano zeigt nicht den Stolz nach getaner Arbeit. Im Gegenteil: Er kann kaum sprechen, bekommt feuchte Augen, als er kurz kommentiert: „Das Schlimme ist, daß wir nun, drei Jahre nach Prozeßbeginn, wieder an der Stelle stehen wie vordem.“ Er erinnert an seinen Kollegen Antonino Saetta, Präsident des Appellationsgerichts -, er hätte das Berufungsverfahren leiten sollen, doch er wurde vorige Woche erschossen; er erinnert an seinen Kollegen Giacomelli aus Trapani, den es eine Woche zuvor erwischt hat, an den Journalisten und Antidrogen-Kämpfer Mauro Rostagno, der am Tag nach Saetta umgebracht wurde.

Neuverteilung

der Mafiamacht

Tatsächlich sieht die Bilanz der letzten Tage und Monate schlimmer aus denn je - 16 Morde in drei Tagen, das hatte es noch nie gegeben. Seit Jahresbeginn bereits fast 150 Menschen, in ganz Sizilien und dem von der Mafiaausdehnung betroffenen Kalabrien sind es schon über 400. Längst sind die Rekordzahlen des Jahres 1982 übertroffen, als der General Carlo Alberto dalla Chiesa nach einer immensen Mordserie als Präfekt nach Palermo entsandt - und selbst alsbald ermordet wurde. „Dritter Mafiakrieg“ nennen die Experten in sachlicher Numerierung, was sich derzeit in Sizilien abspielt. Nach dem ersten großen Kampf in den sechziger Jahren, als sich die Baumafia an die Stelle der eher betulichen Land-Mafiosi setzte, und dem zweiten Anfang der achtziger Jahre, als die aggressiveren Clans in den internationalen Rauschgiftmarkt einstiegen und diesen zu monopolisieren suchten, geht es derzeit nach Fahndererkenntnissen um dreierlei: Erstens suchen die durch die Mafia-Großprozesse geschwächten Gruppen Rache für die Zwickmühle, in die sie die Aussagen von Mitgliedern der Clans, die im letzten Mafiakrieg auf der Verliererseite standen, gebracht hatten (das erklärt zum Beispiel die Morde am Schwager des zweiten großen „Kronzeugen“ Salvatore Contorno und am letzten Bruder des 1981 ermordeten einstigen Oberbosses Stefano Bontade).

Zweitens sind mittlerweile auch die „siegreichen“ Clans untereinander ins Streiten gekommen und schießen die Marktanteile neu aus. (Bereits Ende vorigen Jahres wurde der wildeste Killer aus der Truppe des Michele „Il Papa“ Greco von einer zehnköpfigen Exekutionstruppe niedergemäht. Greco ist Chef der „Cupola“, die alle Mafia-Aktivitäten in Palermo koordiniert.)

Drittens suchen die Clans das durch den Maxi-Prozeß erschütterte Vertrauen internationaler Ringe in die Macht der Mafia wiederherzustellen und ihre Herrschaft über Palermo zu beweisen (daher die Morde an Politikern wie dem ehemaligen Bürgermeister Guiseppe Insalaco, an Richtern wie Saetta und Giacomelli, an Journalisten wie Rostagno).

„Normalisierung“

oder Aufgabe?

Schwer machen Italiens Politiker und Behörden den Mafiosi die Durchführung ihrer Aktionen beileibe nicht. Seit gut zwei Jahren beobachtet zum Beispiel der „Coordinamento antimafia“, ein Dachverband verschiedener Antimafiagruppen, „einen kontinuierlichen Abbau der Wachsamkeit und eine zunehmende Gleichgültigkeit gegenüber der Mafia“.

Ein merkwürdiger Prozeß, der sich da abspielt - und der unter dem noch merkwürdigeren Namen „Normalisierung“ läuft. Darunter verstehen seine Promotoren - speziell die Mehrheit des Obersten Richterrates und eine Reihe vor allem sozialistischer Politiker - „eine Rückführung der sizilianischen Justiz und Politik aus dem Notstandsdenken der letzten Jahre zu einer regulären, normalen Administration und Rechtspflege“. So sollte nach Ansicht der „Normalisierer“ unter anderem der „Antimafia-Pool“ aus zwei Dutzend Ermittlungsrichtern und Fahndungsexperten aufgelöst, seine Mitglieder und sein hochspezialisierter Chef Giovanni Falcone auch mit „normalen“ Aufgaben wie Diebstahlsaufklärung und Verfolgung aufmüpfiger Fußballfans eingedeckt werden. Erste alarmierende „Normalisierung“ war 1987 der Entzug des Polizeischutzes auch für hochgefährdete Personen - alle in den letzten Monaten getöteten Politiker und Richter hatten keine Eskorte bei sich. Zweiter Schritt: Anfang 1988 setzten „Pool„-Feinde gegen die Kandidatur Falcones die Ernennung des 68jährigen Gerichtspräsidenten Antonino Meli zum Leiter der Untersuchungsbehörden Palermos durch. Der hatte keinerlei Fahndungserfahrung, wies dafür jedoch mehr Dienstjahre auf als der 48jährige Falcone... Folgerichtig kam es bereits nach wenigen Monaten zum großen Krach, weil Meli den „Pool“ kaltzustellen versuchte und Verfahren gegen mafiose Politiker blockierte. Nur weil er, dessen Urteile noch stets von der nächsten Instanz kassiert wurden, eifersüchtig auf den erfolgreichen Falcone war? Der Oberste Richterrat bequemte sich erst nach einer Weisung von Staatspräsident Cossiga zu einer Untersuchung, entschied dann gegen Falcone - und mußte schließlich seine Stellungnahme doch noch umkehren, weil der Bericht eines vom Justizministerium entsandten Kommissars schwere Eingriffe Melis offenbarte und die Bevölkerung eisern zu Falcone hielt.

Ein Hin und Her, durch das sich die Mafia zu ihren geplanten Taten ermutigt fühlen konnte - noch dazu, wo gerade alles nach Seoul zu den Olympischen Spielen starrte, und die Parteien in Rom durch einen harten Kampf um die Aufhebung geheimer Abstimmungen im Parlament abgelenkt waren. „Ein Mafiakrieg fällt nicht vom Himmel“, sagte Giovanni Falcone am Wochenende auf einer Tagung in Trapani, „da ist nichts zufällig, da ist alles genau vorausberechnet.“ Daß es so kommen würde, hatte vor einem halben Jahr einer vorausgesagt, der es wissen muß: Salvatore Contorno, der „Kronzeuge“. „'N autunnu sa mattanza“, hatte er düster in breitem Sizilianisch gemurrt, im Herbst wird Mattanza sein. (Mattanza ist der jährliche Thunfischfang bei dem sich das Meer vor Sizilien rot färbt mit dem Blut der harpunierten Tiere.)