Führen durch Umherwandern

Das kapitalistische Management auf dem Weg zum Menschen / Gefragt: Unternehmenskultur oder neudeutsch: Corporate Identity Das japanische Vorbild hat alles ins Rollen gebracht, wird aber gründlich mißverstanden / Annäherung zwischen Ost und West?  ■  Von Wilhelm Purk

Diese Gesellschaft hat es in sich. Sie kann nicht genug bekommen. Sie will mehr Autos, mehr Flugverbindungen, mehr Freizeit, mehr Dienstleistungen, und vor allem und an erster Stelle, sie will mehr Sinn: mehr Psychologen, Therapeuten, Kulturmanager und Überlebenstrainer. Neuester Kandidat im Kontext der Umlaufbeschleunigung, der soften Ware Sinn, ist das kapitalistische Unternehmen. Dort allerdings trägt er einen anderen Namen: Unternehmenskultur oder neudeutsch Corporate Identity. Dabei tritt die Kulturfrage gar nicht von außen an das Unternehmen heran. Die Probleme brechen von innen auf. In einschlägigen Veröffentlichungen gilt das Phänomen der „Unternehmenskultur“ als eines der am häufigsten diskutierten Themen in den Führungsetagen der Unternehmen. Übereinstimmung herrscht dabei darin, daß Managementkonzepte aus der Frühzeit der „wissenschaftlichen Betriebsführung“ als überholt angesehen werden können. Man will den Menschen nicht mehr allein unter funktionalistischen Gesichtspunkten betrachten, dessen Motivation gestaltbar ist.

Es ist die Rede von einem „Paradigmenwechsel“ in der Betriebswirschaftslehre hin zu ganzheitlichen Modellen. Auf Fachkongressen verirrt sich deshalb schon einmal in die Riege der akademischen Zunft ein New-Age-Philosoph mit wahrhaft ausgreifenden Ideen. Was mit viel Gepolter in Amerika mit der Veröffentlichung von Peters und Watermans Buch In Search of Excellence (deutsch: Auf der Suche nach Spitzenleistungen, Landsberg 1983) begann und dann in Wellen über Europa kam, hat dabei recht profane Ursachen: an erster Stelle, die außerordentliche Prosperität der japanischen Wirtschaft, an zweiter Stelle die insgesamt enger werdenden Märkte und darausfolgend ein hypertropher Konkurrenzdruck. Von Reisen kehrten Fachleute aus dem Westen immer mit den selben Erkenntnissen zurück: Die Japaner arbeiten länger und öfter, sie feiern weniger krank, machen weniger Urlaub. Die japanische Industrie kennt keine Stechuhren im Betrieb. Darüber hinaus gibt es ein hohes Maß an unbezahlter Mehrarbeit und Kleingruppenaktivitäten nach Feierabend.

Japansyndrom

In der öffentlichen Diskussion entdeckten findige Unernehmensberater die Ursachen des „Japansyndroms“ in den vormodernen Autoritätsstrukturen der japanischen Gesellschaft, andere im perfekten Kapitalismus, wieder andere gar im Buddhismus. Durchgesetzt hat sich offenbar die plausiblere Erklärung. Die Ursache der außerordentlichen Leistungsfähigkeit eines Unternehmens sei zum beträchtlichen Teil in seiner „Kultur“ zu suchen. Was unter „Kultur“ in Unternehmen zu verstehen sei, wurde - noch relativ unspezifisch - gleich mitgeliefert: die Identifikation mit den Unternehmenszielen, das gänzliche Engagement der Mitarbeiter für das Unternehmen noch vor dem für die Familie.

Es folgte die alles entscheidende Frage: Wird es möglich sein, „Unternehmenskulturen“ zu beeinflußen, wenn nicht gar gänzlich neu zu erzeugen? Peters und Waterman gaben darauf eine eindeutige Antwort. Eine Untersuchung von dreiundvierzig erfolgreichen Unternehmen ergab, daß neben den externen Variablen, Kundenbetreuung und Innovation, an erster Stelle eine Mitarbeiterführung steht, die Achtung vor der Würde des Mitarbeiters hat und ihn als mündiges Individuum betrachtet. Bestleistungen erbringen solche Mitarbeiter, die in den Kommunikationsfluß über die Ziele und Planungen des Betriebes eingebunden sind: Die größte Gefahr, so Thomas Peters in einer nachgereichten materialreicheren Untersuchung, gehe von Verachtung, Unehrlichkeit und Heuchelei aus. Instrumentalisierung der Kommunikation ersticke jede Veränderung hin zu einer besseren Unternehmenskultur im Keim. Persönliche Integrität, sowie die Fähigkeit, die Menschen zu begeistern, so daß diese den Betrieb quasi als ihr Eigentum betrachten, gehöre zu den Führungsqualitäten des Managements in den besten Unternehmen.

Der ehemalige Unternehmensberater nennt viele Beispiele: angefangen von der Abschaffung der Privatparkplätze oder gesonderter Kantinen für Führungskräfte bis hin zur Dezentralisierung der Unternehmenshierarchie.

Theoriebedürftigkeit

Peters Anlayse kennt keine Interessengegensätze zwischen Führung und Belegschaft, keine Termini wie Arbeitgeber oder gar Lohnabhängiger. Die Publikation, ein wohl exzellentes Beispiel für Theorieunbedürftigkeit, hat ihr deutsches, theoriegesättigtes Gegenstück. Einer der Befürworter eines Paradigmenwechsels in der Betriebswirtschaftslehre, Professor Peter Ulrich, spricht von der fatalen Einsicht, daß der Traum von der vollkommen sozialtechnologischen Kontrolle und Komplexitätsbeherrschung in Unternehmen ausgeträumt sei. In einer solchen Perspektive erscheint das Unternehmen als System, das Beziehungen zur Umwelt herstellt, die über den Horizont eines jeden Mitarbeiters hinausreichen.

In Termini des Systemansatzes, so Ulrich, läßt sich Sinnverlust bei Mitarbeitern nicht erfassen. Eigentümlichkeiten und individuelle Vorlieben werden als Nicht-Systemisches ausgeklammert. Dem sei selbst durch ein ausgeklügeltes strategisches Management nicht beizukommen.

In den letzten Jahren wurde der Versuch unternommen, höhere Leistungen von Mitarbeiern gleichsam zu erzwingen. Neben der unbestrittenen Effektivitätssteigerung dient z.B. die EDV in oft einschneidender Weise der Überwachung der Belegschaft. So kann bei einer Sekretärin die Zahl der monatlichen Anschläge auf der Tastatur des Datenterminals registriert und Mitarbeitertelefonate nach Gesprächspartner und Dauer differenziert werden.

Dabei bringen solche Maßnahmen oft gerade das Gegenteil von dem, was beabsichtigt wurde. Die Mitarbeiter fühlen sich überwacht und gegängelt. Man tut nur noch so viel wie nötig und sucht nichtüberwachte Nischen. Was Peters das lebensnotwendige „Managing By Wandering Around“ (im Deutschen etwa: Führen durch Umherwandern) nennt, also die offene Kommunikation der Betriebsleitung mit allen Mitarbeitern, kommt bei der strategischen Unternehmensführung kaum noch vor. Ulrich fordert deshalb, was hier als Nicht-Systemisches unter den Tisch falle, nicht mehr auszuschließen. Das moderne Unternehmen kranke an der Ausklammerung des „Kulturspezifischen“, was sich immer häufiger auf die Effizienz auswirke. Jeder Einsatz von Steuerungsinstrumenten mache zusätzliche Stabilisierungsmaßnahmen notwendig, ein Kreislauf ohne Ende, den es nun zu durchbrechen gelte.

Habermas verpflichtet

In seinem ganz dem gesellschaftstheoretischen Entwurf von Jürgen Habermas verpflichteten Ansatz folgt Ulrich den entscheidenden Linien der Theorie des kommunikativen Handelns. Dort hatte Habermas die Gesellschaft in zwei Perspektiven zu fassen versucht: auf der einen Seite als System, in dem erfolgsorientiert und zweckrational gehandelt wird, auf der anderen Seite als Lebenswelt, die sich durch verständigungsorientiertes, kommunikatives Handeln immer wieder neu erzeugt. Habermas zeigt, daß sich das moderne ökonomische System erst als Folge eines Aufklärungsprozesses, also einer Rationalisierung der Lebenswelt selbst, etablieren konnte. Am Ende der Entwicklung steht jedoch ein ökonomisches Sytem, das in seinen Anforderungen und vermeintlichen Sachzwängen über den systemischen Rahmen hinausschießt und auf die Ressourcen der Lebenswelt zurückgreift.

Ulrich empfiehlt den Unternehmen zur Rettung ihres kulturellen Fundaments zweierlei: erstens, eine gehörige Portion kommunikativen Handelns, was bei ihm „konsensorientiertes Management“ heißt, und zweitens, ein „klares Bewußtsein“ über den „symbolischen Sinngehalt der Führungsaktivitäten“. Letzteres erinnert mit Recht an die symbolische Bedeutung der Privatparkplätze bei Peters. Es zeigen sich auffällige Parallelen. Was der theoretisch fundiertere Ulrich unter „konsensorientiertem Mangement“ versteht, liegt gar nicht so weit von dem entfernt, was der pragmatische Peters die ehrliche Kommunikation zwischen gleichberechtigten Partnern nennt.

Sanfter Kommunismus

Es darf allerdings bezweifelt werden, ob diese beiden im Ansatz so verschiedenen, in der Konsequenz so kongruenten Konzeptionen das treffen, was in Japan zur außerordentlichen Leistungssteigerung geführt hatte. Christoph Deutschmann und Claudia Weber, die zwei Jahre lang vor Ort in japanischen Unternehmen recherchierten (Das japanische „Arbeitsbienen“ -Syndrom, 1987), kamen zu dem Ergebnis, daß die Akzeptanz der in Japan herrschenden Arbeitszeitpraxis nichts mit einem tatsächlichen Konsens zu tun habe, sondern auf subtilem Anpassungsdruck beruhe. Kernstücke der japanischen Arbeitsbeziehungen bilde nämlich ein Kleingruppenmodell, bei dem jeder für den anderen mitverantwortlich sei. Der Leistungsdruck, der auf dieser Kleingruppe laste, sei so extrem, daß jeder Ausfall eines Mitgliedes der Gruppe, jeden anderen in Form von zusätzlicher Arbeitsbelastung unmittelbar tangiere. Verständlicherweise sei der Gruppendruck enorm.

Diese Modell erinnert offenbar so sehr an das Modell der Arbeitsbrigaden im Ostblock, daß in diesem Zusammenhang auch schon vom „sanften Kommunismus“ die Rede war. Daß der japanische Arbeitnehmer seine gesetzlich garantierte Urlaubszeit nicht voll ausschöpft, hat nichts mit partizipierendem Leistungswillen zu tun, sondern eher mit dem allgegenwärtigen Zwang, die Funktionsfähigkeit der Gruppe nicht zu gefährden. Oft zahlen japanische Firmen in der Urlaubszeit auch nur 60 Prozent des Lohns.

Die japanische Unternehmenskultur wurde erst nach dem Zweiten Weltkrieg in dieser Form entwickelt und ist damit das genuine Produkt einer spätkapitalistisch verfaßten Gesellschaft. Ob diese spezifische Form ohne weiteres auf europäische und amerikanische Verhältnisse übertragen werden kann, ist eine offene Frage. Das kann jedoch nicht darüber hinweg täuschen, daß die Diskussion nur auf der Basis gleicher Grundannahmen möglich ist. Trotz aller nationalen Differenzen scheint der real existierende Kapitalismus mit großen Schritten auf eine Idealform der Menschenführung und Handlungskoordinierung zuzuschreiten. Und wenn man das Diktum vom „sanften Kommunismus“ ernst nimmt, dann schreitet unter Gorbatschow in Fragen der Ökonomie nicht nur der Osten auf den Westen zu, sondern hiermit umgekehrt auch der Westen auf den Osten.