Milosevicismus

■ Der serbische Parteiführer strebt an die Macht

Massenaufläufe, Demonstrationen, Sturm auf die Parteibüros, Rücktritte ganzer Parteiführungen in den Provinzen: man könnte meinen, die letzte Stunde des Bundes der Kommunisten Jugoslawiens hätte geschlagen. Doch bei näherem Hinsehen entpuppt sich die Massenmobilisierung der Bevölkerung als eine von der serbischen Parteiführung initiierte und geförderte Aktion, die vor allem zwei Zielen dienen soll: die Übernahme der Macht durch den serbischen Parteiführer Slobadan Milosevic im gesamten Jugoslawien vorzubereiten und eine zentralistisch ausgerichtete Verfassungsreform im Gesamtstaat durchzusetzen.

Systematisch hat Milosevic in den letzten Monaten seine Bastionen ausgebaut. Indem er in einem innerparteilichen Putsch Ende letzten Jahres die alte serbische Parteiführung aus dem Felde schlug und die Partei von allen Gegnern säuberte, ist es ihm gelungen, sie zu einer stalinistischen Kaderpartei zurückzuentwickeln, die ihm treu ergeben ist. Und indem er mit Unterstützung rechtsradikaler Kreise seit Frühjahr dieses Jahres an die niedrigsten nationalistischen und faschistischen Instinkte appellierte, wurde in Serbien eine Atmossphäre geschaffen, die für die Albaner in Kosovo und jetzt sogar für die Ungarn und andere Minderheiten in Wojwodina das Schlimmste befürchten lassen. Milosevic ist in den letzten Wochen sogar so weit gegangen, die Massenmobilisierung gegen seine Gegner in den Parteiapparaten anderer Republiken zu richten.

Die Parteispitze hat dieser Offensive kaum etwas entgegenzusetzen, nutzt doch Milosevic hemmungslos deren Schwäche und Unfähigkeit aus, die ökonomische und politische Krise des Vielvölkerstaates zu lösen. Vor allem im nördlichsten Bundesstaat Slowenien regt sich Widerstand: Noch kann man dort an demokratischen Modellen für Jugoslawiens Zukunft basteln.

Erich Rathfelder