Das Tao der Mittelmäßigkeit

■ Auf der Buchmesse regieren die Würstchen

Erleidet die Buchmesse - gleichsam ein Frankfurter Würstchen - bei Erhitzen Gewichtsverlust? 102.860 Neuerscheinungen unter insgesamt 338.848 präsentierten Buchtiteln meldete die taz noch am Mittwoch als eindeutige Jahresweltbestleistung der diesjährigen 40. Buchmesse. Einen Tag später sprach die 'Faz‘ nurmehr von 92.000, und heute schätzt taz -Kulturredakteur Mathias Bröckers knappe 60.000. Aber Zahlendenken sei ohnehin inhuman, lernen wir auf einer Diskussion mit Hildegard Hamm-Brücher und Horst-Eberhard Richter. Auf der gleichen Veranstaltung verkündet Walter Jens, daß man für eine menschlichere Gesellschaft eintreten müsse. Höhepunkt dieser Bestrebungen ist die alljährliche Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels. Gewonnen hat diesmal Herr Siegfried Lenz aus ... und darf morgen 25.000 Mark entgegennehmen. Herr Genscher plädiert für einen italienischen Akzent und Herr Andreotti redet einer gesamteuropäischen Kultur das Wort. Italien ist nämlich der Schwerpunkt dieser Messe und stellt in seinem Pavillon allein 3.500 Neuerscheinungen vor. 12 Millionen Mark hat sich das Land die Kultur-PR in Frankfurt kosten lassen, die Eingangshalle mit römischem Kulissenzauber ausgestattet und 70 lesende und diskutierende AutorInnen eingeflogen. Von Spaghetti-Fieber ist jedoch in den weitläufigen Messehallen keine Spur, kulinarisch regieren, neben allerlei Öko-Pik, Joghurt-Crisps und Schokoriegeln, auf der Buchmesse nach wie vor die Frankfurter Würstchen.

An derart solide, mittlerweile jedoch fast ungenießbar gewordene Grundnahrungsmittel gemahnt auch das, was heuer aus deutschen Landen frisch auf den Literatur-Gabentisch geworfen wird. Die Meister der Innung haben pünktlich geliefert, Grass einmal Zunge zeigen, Walser einmal Jagd, Hartling einmal Wanderer und Lenz einmal Serbisches Mädchen - letzterer trug für seine Gesamtbockwurst den Friedenspreis des Buchhandels davon. Leichtfuß Enzensberger scheint mit seinem Lob des Analphabetentums mal wieder vorne zu liegen, Mittelmaß und Wahn ist eine Sammlung neuer Essays betitelt: „Diese Gesellschaft ist mittelmäßig - diese Einsicht hat etwas Erlösendes.“ Das hat sie fraglos - und im wirklichen Leben wollen wir das Tao der Mittelmäßigkeit auch gar nicht weiter ankratzen, von der Literatur aber muß mehr verlangt werden Inspiration, Phantasie, Spielwitz, kurz: statt Mittelmaß olympiareife Erstklassigkeit, schließlich ist Doping im geistigen Geschäft nicht verboten.

Wenn die Kassen des deutschen Buchhandels dennoch klingeln, verdanken sie das vor allem der ausländischen Literatur: Isabel Allendes Luna steht in den Seller-Listen schon oben, Tom Wolfes Fegefeuer wird dank des PR-Feuerwerks bald folgen, der Überraschungserfolg im Sachbuchbereich, die Kurze Geschichte der Zeit des Kosmologen Stephen Hawking erlebte in wenigen Wochen die fünfte Auflage. Der kommende Mega-Seller ist gerade in Italien erschienen und wird erst zur Messe 1990 auf deutsch vorliegen: Umberto Ecos „Das Pendel des Foucault“, in dem es nicht um die Überführung des Philosophen Foucault als Okkultisten geht, sondern um einen frühen Namensvetter, der in allerlei alchimistische Verschwörungen verstrickt ist.

Was ist an der Jetzt-Zeit so unspannend, daß die avanciertesten Thriller im Altertum spielen? Den „aktuellen“ Hit, den Geheimtip der Messe zu entdecken, scheint in diesem Jahr schwerer denn je: die Feuilletons loben durch die Bank Christoph Ransmayers Letzte Welt - ein Roman aus der Welt des Ovid, Pessoa-Fans empfehlen Jose Saramagos Das Todesjahr des Ricardo Reis - eine fiktive Biographie einer fiktiven Pessoa-Figur, die Simulations-Freaks von Merve empfehlen als Bonbon einen neu übersetzten Text des antiken Plutarch über die Kunst, Freunde von Schmeichlern zu unterscheiden. „Grüne Kraft„-Mensch Pieper hat einen Band mit Hinterglasmalerei aus dem Senegal ins Herz geschlossen...

Warum aus deutschen Landen so wenig Frisches auf den Kulturtisch kommt, könnte vielleich ein „Was fehlt“ klären, das der Quadriga-Verlag schräg gegenüber dem taz-Messestand ausstellt: ein Buch über Russen, meist russische Juden, im Berlin der zwanziger Jahre. Nun könnte mein persönlicher Bevorratungs-Tip für den Leseratten-Winter - der erste Band von Klaus Theweleits Buch der Könige - unter anderem darauf hinauslaufen, daß wir sogenanntes deutsches Kulturvolk die Körper der Juden erschlagen haben, weil wir scharf waren auf ihren Geist und nach dieser Einverleibungsaktion so etwas wie die „besseren Juden“ darstellen. Wie aber wäre dann die Dominanz der Bockwurst -Kultur zu erklären?

Genausowenig wie ein Skandal-Mirakel, das die Staatsanwaltschaft Mannheim termingerecht zur Buchmesse eingeleitet hat: gegen Gerhard Zwerenz wegen des Titels seines neuesten Buchs: Soldaten sind Mörder. Unter eben diesem Titel hatte Kurt Tucholsky 1931 in der 'Weltbühne‘ einen Artikel veröffentlicht, der Herausgeber Carl Ossietzky war deswegen angeklagt und in zweiter Instanz vom Reichsgericht freigesprochen worden. 57 Jahre danach soll also das Verfahren jetzt wieder aufgenommen werden...

Mathias Bröckers