WELLEN ALS WILLE UND VORSTELLUNG

■ GANZ OHR - eine HÖ(he)R-Entwicklung / Ausstellung ums Radio

Kirche als lebendige Instanz der Kommunikation hat das Format der Information zu sprengen, das durch die Systeme vorgegeben wird. Nicht Anpassung, sondern Bewegung in den Systemen müßte ihr Handlungsziel sein.“ (10 Jahre Öffentlichkeitsarbeit in der Versöhnungsgemeinde)

Ist alternative Kommunikation, Gegenöffentlichkeit und soziale Kulturarbeit in einer evangelischen Gemeinde ein Widerspruch? Jedenfalls nicht in der Bernauer 111, wo seit 10 Jahren diese Arbeit stattfindet. Die „Ausstellung ums Radio“ soll Besucher durch Beispiele anregen, sich als Produzenten zu begreifen und auch als bewußte Hörer. Die GANZ OHR-Ausstellung gibt einen Überblick über die Geschichte des Radios und versucht, die noch immer nicht ausgeschöpften oder verhinderten Möglichkeiten des Mediums Radio zu demonstrieren. Die Besucher gelangen vom 'Meinungscontainer‘, der auf der Kasseler documenta vom Hessischen Rundfunk installiert wurde, und wo das Volk sich systemkritisch und frech aussprach, daß die Beiträge irgendwann nicht mehr gesendet wurden, über Reden an das 'Liebe Volk‘ und einigen 'ungehaltenen Predigten‘ und einer Collage kommunikationspolitischer 'Zeitzeugnisse‘ in die graue Vorzeit des Rundfunks.

„An Alle!“ tönte es am 9.11. 1918 aus dem besetzten Wolffschen Telegrafenbüro in Berlin, wo revolutionäre Arbeiter und Soldaten mit „Hier hat die Revolution einen glänzenden, fast unblutigen Sieg errungen...“ den kurzen Traum eines 'freien Rundfunks‘ feierten. Dieses „An Alle“ war auch schon das Ende des „Mediums der Massen“: der Rundfunk wurde Massenmedium. In der Weimarer Republik bekam die Post das Sendemonopol, das die Industrie nützte und aus aktiven Nutzern passive Konsumenten machte. Im deutschen Rundfunk sprach jetzt der Staat. „Achtung, Achtung. Hier ist Berlin, Voxhaus...“ vom 29.10. 1923 gilt als offizieller Beginn des Rundfunks in Deutschland. Ab 1924 organisieren sich viele Arbeiter in der „Arbeiter-Radio-Bewegung“. Der Reichsrundfunkkommissar Hans Bredow ging energisch gegen dieses progressive Engagement vor. Die Arbeiter gingen nie auf Sendung; der Rundfunk wurde staatstragend und das Produkt von Verordnungen.

Da half auch Brechts Vorschlag nichts: „Den Mächten der Ausschaltung durch eine Organisation der Ausgeschalteten zu begegnen“, denn die erstarkenden Nazis gewannen auch auf den Rundfunkapparat zunehmend Einfluß. Ab dem 23.3. 1933 wurde der Rundfunk ohnehin gleichgeschaltet, das Radio wurde zum Propagandainstrument. Der „Volksempfänger“ machte die Deutschen zu einem Volk von Mediennutzern. Der erste illegale, hörbare Sender in Nazi-Deutschland war die „Schwarze Front“. Der in Ungnade gefallene Otto Strasser sendete von September 1934 fast ein Jahr aus der Tschechoslowakei unliebsame Nachrichten. Das Abhören illegaler Sender gehörte zum antifaschistischen Widerstand; in den Sendeanstalten gab es nur vereinzelten Protest.

Aus den Radioapparaten dröhnte der Bunte Abend locker und ohne viel Inhalt. Anders der ab 1936 aus Spanien zu empfangende Sender mit 'freien Tönen‘. Aus dem Bürgerkrieg sendete „die Stimme der Freiheit in deutscher Nacht - auf Welle 29,8“, wie es John Heartfield montierte, fast drei Jahre ins Reichsgebiet. In Deutschland hingegen gibt das Oberkommando der Wehrmacht Sondermeldungen bekannt. Der Krieg zog durch den Äther ins Medium ein. Aus Moskau konnte der Sender 'Freies Deutschland‘ und aus London der BBC empfangen werden, der sich ab 1941 mit Thomas Mann an Deutsche Hörer wandte. Im Deutschland der Nachkriegszeit bestimmten die Alliierten die Rundfunkorganisation, und die ersten deutschen Rundfunkmitarbeiter waren Linke, manche bekannten sich zur Rätedemokratie.

Was die Nazis mit ihren Verdrahtungsplänen nicht schafften, das gelang der Kohl-Regierung Anfang der achtziger Jahre. Die Anstalten gerieten immer mehr unter den Einfluß der politischen Parteien. Die in den fünfziger Jahren aufgebrachte Legende vom Rotfunk fand in den Medientheorien der frühen siebziger Jahre Nahrung, man denke nur an Enzensberger „Baukasten“, und bleibt bis heute der Liebslingsvorwurf der Christdemokraten gegen unliebsame Sender. Während in den Nachkriegsjahren der Geschmack der Millionen das Programm prägt, entstehen in den siebziger Jahren die Piratensender, die illegalen oder freien Radios, die eine Gegenöffentlichkeit herstellen, die sich die etablierten Sender nicht mehr leisten können oder wollen. Das Mainstream-Radio des ausgehenden 20. Jahrhunderts ist gekennzeichnet im „Hallöchen“.

In Zeiten permanenter und immer aggressiver marktorientierten Tönen wird illegales Radio weiterhin eine wichtige Form des Rundfunks bleiben müssen, denn die gesellschaftliche und kulturelle Funktion der Kommunikation wird nicht mehr diskutiert.

Ein 'Walkman-Projekt‘ der Gemeinde mit Jugendlichen, das 'Ge(h)-Hör-Spiel‘, zeigt eine andere Form der akustischen Berlin-Erkundung auf. Ein Raum wird den Klassikern der Medientheorie (Arnheim, Brecht, Anders) gewidmet sein und eine 'Telefonmaschine‘ zeigt, was man mit einem Anrufbeantworter für Spiele machen kann. Außerdem informieren die Macher über die Arbeit der Frankfurter Network Cooperative mit ihrem akustischen Material. Und wer sich für das Hörspiel und sein Umfeld interessiert, ist dort sowieso bestens aufgehoben, zieht sich doch dieses Genre wie ein roter Faden durch die Ausstellung. Eine Broschüre (für 5 Mark zu haben, sehr lohnend!), eine Synopse und eine Bibliographie ergänzen neben einer Darstellung der psychologischen und physikalischen Seite des Hörens das Angebot.

Der Ort ist etwas ab vom Schuß. U-Bahn-Station Voltastraße, dann noch zehn Minuten Fußweg. Walkman mitnehmen.

Frank Jörg Reimann

Bernauer Straße 111, Di-So 10-19 Uhr. Rahmenprogramm: heute um 20 Uhr Lesung „Aufklärung für Kinder - Rundfunkvorträge von Walter Benjamin“, Peter Schmidt-Schönberg (mit Klangimprovisationen Rene Schmidt), und am 13.10. um 20 Uhr: Experimente mit Musik und Sprache (Radio-Music“ (gem. mit der Musikschule Wedding: Disagio-Kickjazz u.a.).