Verunsicherung unter den militanten Serben

Nach einer langen Phase des Abwartens gehen Jugoslawiens Ordnungskräfte massiv gegen nationalistische Demonstrationen vor Jugoslawische Zeitungen kritisieren die Zurückhaltung der reformorientierten Kräfte im Parteiapparat  ■  Von Roland Hofwiler

Berlin (taz) - Prügelorgien, Tränengaseinsatz, gesperrte Straßen und tote Telefonlinien. Die Bilanz des Wochenendes nach einer Großdemonstration serbischer Nationalisten. Titograd, die Hauptstadt der südjugoslawischen Republik Montenegro, erlebt den ersten Ausnahmezustand seit Kriegsende. Die Menschen haben Angst vor dem, was in den nächsten Tagen geschehen wird. Erstmals, seitdem die nationalistischen Großdemonstrationen militanter Serben den Vielvölkerstaat an der Adria erschüttern, erstmals seit zwei Monaten griff die Staatsmacht ein, kam aus der zentralen Parteizentrale in Belgrad die Direktive, mit „allen rechtmäßigen Mitteln“ den Demonstrationen ein Ende zu bereiten.

Milosevics Anhänger sind verunsichert: Ist der serbische Parteichef, der seine Anhänger seit Wochen dazu ermuntert, militant auf die Straße zu gehen, um das „historische Recht des serbischen Volkes“ im politischen Leben Jugoslawiens einzufordern, ist dieser viel umjubelte Milosevic plötzlich der Kollaborateur eines „serbenfeindlichen“ Zentralkomitees? Was seit Monaten ohne jedes Anzeichen von Repression geduldet wurde: daß man auf die Straße ging und ungeniert brüllen durfte „Albaner raus aus Jugoslawien“, „Magyaren, verzichtet auf eure Minderheitenrechte, sonst wird es euch schlecht bekommen“ und ähnlich chauvinistische Parolen - all das soll ab nun als „volksfeindliche Hetze“ strafrechtlich verfolgt werden?

Noch sei es zu früh, vorauszusehen, was in den nächsten Wochen geschehen wird, erklären jugoslawische Journalisten der taz auf die Frage, wann demokratische Versuche zur Lösung der schwersten ökonomischen und politischen Krise Jugoslawiens zum Zuge kämen. Vor allem kroatische und slowenische Parteizeitschriften hielten in den letzten Tagen mit ihrer Kritik nicht zurück. Sie schreiben, demokratische Kräfte in der Föderation hätten sich in die innere Emigration zurückgezogen, um sich an der Massenhysterie, die in Serbien immer größere Ausmaße annehme, nicht die Finger zu verbrennen. „Sie räumten freiwillig das Schlachtfeld Jugoslawien“, schreibt beispielsweise das Wochenblatt 'danas‘. Denn anders als westliche Medien und auch die taz, die die Rücktritte hoher ZK-Funktionäre in der Vojvodina (Vizeparteichef und Gorbatschow-Liebling Bosko Krunic) und in Slowenien als „Schwäche der lokalen Parteiführungen“ interpretierten, die der zentralistischen Politikvorstellung von Slobodan Milosevic unterlegen seien, werten die jugoslawischen Zeitungen die Rücktritte als lange zuvor absehbar.

Miha Kovac, Kommentator bei 'Teleks‘ und 'Mladina‘: „Die alten Partisanenkämpfer wollten sich ehrwürdig aus der Politik verabschieden und sich nicht in den ihrer Meinung nach irrationalen Nationalitätenstreit einmischen, eine Verhaltensweise, die genaugenommen schon seit 1980 die alten Internationalisten prägt - ob man das gutheißen soll, ist dabei eine ganz andere Frage.“

In der Tat traten vor allem hohe Parteifunktionäre, Partisanengeneräle und Spanienkämpfer nach dem Tod des Staatsgründers und langjährigen Parteichefs Tito aus den Reihen des „Bundes der Kommunisten“ aus, als sie bemerkten, wie die sozialistischen Ideale einer „Föderation gleichberechtigter Völker und Völkerschaften“ unter den Völkern an Anziehungskraft verloren. Heute schreibt gar das Zentralorgan 'Borba‘, die Menschen hätten vom Sozialismus die Nase voll, von einer Vielvölkergemeinschaft träume keiner mehr, es gebe nur noch den „bürgerlichen Traum“ von Nationalstaaten.

„Wer möchte überhaupt noch Jugoslawien“, fragt 'danas‘ und läßt die Frage bewußt offen, „da jeder die Antwort bereits kennt“. Das gleiche Wochenblatt bewertet denn auch die Kampfparole von Milosevic, „nur ein starkes Serbien kann Jugoslawien retten“, als demagogische Phrase, da es nicht mehr um Jugoslawien als Einheit gehe, sondern um die Ausrufung eines „serbischen Staates“, wie auch slowenische und kroatische Politiker an einem eigenen „Nationalstaat“ bastelten. Die offene Frage sei nur, wer sein „Territorium“ auf Kosten der anderen Republiken am besten vergrößern könne.

Die Kreise, die an die Einsicht glaubten, nur eine „Föderation des Vielvölkerteppichs“ (NIN) könne auf dem Balkan verhindern, daß es nicht wie in der Vergangenheit zu regionalen Kriegen und Minderheitenunterdrückungen komme, hätten in ihrer Mehrzahl resigniert, da sie in der Bevölkerung an keine Unterstützung glaubten. „Was hat uns der Sozialismus nach 40 Jahren gebracht?“, fragte bereits vor längerem 'Mladina‘ und gab zur Antwort: „Einen Schutthaufen, der noch größer ist als die Verwüstung, die in unserem Land nach dem Zweiten Weltkrieg herrschte.“

Zu der hitzigen und repressiven Reaktion sei es in Montenegro am Wochenende nur deshalb gekommen, meint Miha Kovac, weil dort junge Politiker am Ruder seien - und die hätten zumindest noch das Ziel, den nationalistischen Kräften aus Serbien Widerstand zu leisten. In Vojvodina dagegen hätten die gestandenen Parteifunktionäre offenbar resigniert.

Auf die Frage der taz an den ehemaligen Jugendfunktionär, der vor Jahren 'Mladina‘ zur ersten unabhängigen und freien Zeitschrift Jugoslawiens umgestaltete, was er tun werde, sollte es zu zwischennationalen Ausschreitungen kommen, sagte Kovac: „Meine Koffer halte ich immer gepackt. Ich mische mich nicht mehr ein, wenn Jugoslawien zu einem balkanischen Libanon zerfällt.“