„Wir wollen keine Fremdbestimmung durch Bürokraten“

■ Die estnische Ökonomin Marju Lauristin ist eine der sieben gewählten Führungsmitglieder der „Volksfront“ in Estland

I N T E R V I E W

taz: Manche Leute sagen, die Volksfront würde sich zu einer zweiten Partei entwickeln. Ist nicht eher umgekehrt die Volksfont die erste Partei, während die KPdSU nur mehr ein Schattendasein führt?

Laurestin: Nein. Wir haben immer erklärt, daß wir keine Partei sein wollen, und das sind nicht nur Worte. Wir stützen uns lieber auf die Basis.

Kern Ihres Programms ist die wirtschaftliche Autonomie. Ihre Gegner nennen eine solche radikale Autonomie utopisch. Ist Estland nicht zu abhängig von der sowjetischen Wirtschaft, um sich abkoppeln zu können?

Wir wollen uns nicht abkoppeln. Wir wollen sogar intensivere Beziehungen mit den anderen Republiken und Regionen der Sowjetunion und mit der Zentrale, aber es sollen Marktbeziehungen sein. Wir wollen nicht mehr von Subventionen abhängen und uns einer Fremdbestimmung durch die zentrale Bürokratie unterwerfen. Moskau kann in Estland investieren, nach marktwirtschaftlichen Prinzipien. Aber den Plan bestimmen wir. Estland hat sich immer schneller entwickelt als andere Regionen der Sowjetunion. Unsere Produktivkräfte sind intensiver. Und unser Lebensstandard ist jetzt schon höher als in anderen Sowjetrepubliken.

Bei den Diskussionen hier in Tallinn ist die Idee von „Sonderzonen“ aufgetaucht, in denen, ähnlich wie in China, gewisse Regeln der Planwirtschaft außer Kraft gesetzt werden. Wenn ich es richtig verstehe, wollen Sie Estland in eine solche Sonderzone verwandeln: mit Zugang zu westlichem Kapital, mit einer eigenen konvertiblen Währung? ...

Nein, diese Frage ist bis jetzt überhaupt noch nicht klar. Es gibt einige Leute, zu denen auch ich gehöre, die da skeptisch sind. Wir meinen, es gibt bessere Wege.

Weil Moskau diese Idee nicht unterstützen würde?

Nein, im Gegenteil, Moskau würde es unterstützen. Sicher sogar. Aber wir meinen, daß es nicht gut sein würde für unsere Souveränität ...

Weil Sie dann die Abhängigkeit von der zentralen Bürokratie eintauschen würden gegen zuviel Abhängigkeit von ausländischem Kapital?

Ja, auch aus diesem Grund. Wir glauben, daß es einfach andere Möglichkeiten gibt, unsere Selbständigkeit zu behaupten. Zum Beispiel durch das Prinzip der Selbstfinanzierung.

Nun gibt es in Ihrer Bewegung aber doch nicht wenige Leute, die gerne weitergehen würden als Sie. Die von voller staatlicher Selbständigkeit reden. Angenommen, Sie verwirklichen Ihr Modell der Selbstfinanzierung, dann wird es ja nicht sofort positive Auswirkungen zeigen. Wird sich Ihre Bewegung nicht radikalisieren?

Wir beschränken uns keineswegs nur auf die wirtschaftlichen Maßnahmen. Wir wollen auch kulturelle Autonomie, also zum Beispiel die gesetzliche Verankerung von Estnisch als einzige Staatssprache hier. Grenzänderungen sind in der gegenwärtigen Welt ein sehr kompliziertes Problem. Wenn wir das auf die Tagesordnung setzen, dann gefährden wir alle anderen Punkte, die uns heute wichtiger erscheinen.

Wird die Partei auf Dauer dieses demokratische Experiment tolerieren?

Eine komische Frage, entschuldigen Sie. Ich bin doch selbst in der Partei ...

Aber nicht in der Parteiführung. Oder glauben Sie, daß es jetzt auch zu radikalen Umbesetzungen in der Parteiführung kommt? Was man bisher von den Parteiwahlen hört, klingt nicht so ermutigend ...

Für Estland stimmt das nicht. Wir von der Volksfront haben in einigen Bezirken bereits eigene Kandidaten durchgesetzt. Bei den Versammlungen zu den Parteiwahlen laden wir auch Parteilose ein. Zum ersten mal können auch sie bei Eintscheidungen in der Partei mitbestimmen.

Es fällt auf, daß in Ihrem Programm von Estland die Rede ist, aber sehr wenig von einer Zusammenarbeit mit den anderen baltischen Republiken, die doch in einer vergleichbaren Situation sind. Zumindest was Ihr Verhältnis zur zentralen Bürokratie betrifft ...

Unsrere Bewegungen, auch in den anderen baltischen Republiken, sind erst am Anfang. Der nächste Schritt ist eine Zusammenarbeit. Wir haben bereits hier in Tallinn darüber gesprochen. Es waren Delegierte aus Riga und Vilius da, und wir schicken auch Vertreter zu den Kongressen, die in Lettland und Litauen stattfinden, aber wir sind gerade erst dabei, unsere eigene Identität zu behaupten.

Das Gespräch in Moskau führte F. Kargan