Revolte in Algerien weitet sich aus

■ Seit Donnerstag 170 Tote und mehrere hundert Verletzte / Trotz Ausgangssperre und Schießbefehl gehen die Proteste in mehreren Städten Algeriens weiter

Algier (afp/taz) - Belagerungszustand, nächtliche Ausgangssperre und Schießbefehl haben die Demonstranten in Algier und anderen Städten Algeriens am Wochenende nicht von ihren Protesten gegen die sich verschlechternden Lebensbedingungen abhalten können. Inoffiziellen Angaben zufolge haben die Demonstrationen seit Donnerstag 170 Menschenleben und mehrere hundert Verletzte gefordert.

Die Zahl der Opfer im Großraum Algier wurde auf 115 Personen geschätzt. Allein in Kouba, einem südlichen Vorort der Hauptstadt, sollen sechzig Menschen umgekommen sein. Wie in anderen Vororten war es dort in der Nacht zum Sonntag trotz Ausgangssperre zu Protesten und Schießereien gekommen. Die Armee zielte nach Augenzeugenberichten von Panzern aus mit Maschinengewehren in die Menge. Zentren der Straßenproteste waren die dicht bevölkerten Armenviertel Algiers.

Mittlerweile beschränken sich die Demonstrationen nicht länger auf die Hauptstadt. In verschiedenen Provinzstädten sollen 60 Personen getötet worden sein. Die meisten Toten wurden aus Oran, der zweitgrößten Stadt des Landes gemeldet. Innenminister Hedi Khediri hatte am Samstagabend bestätigt, daß es auch in den Städten Mostaganem, Tiaret und Annaba zu Unruhen gekommen sei. Staatschef Chadli Benjedid hatte am Vorabend im Fernsehen in Botschaften an die Golfstaaten versichert, die Lage sei unter Kontrolle.

Die Proteste richten sich gegen die schwere Wirtschaftskrise, die dazu geführt hat, daß die Versorgung mit Grundnahrungsmitteln stark gefährdet ist. Hauptsächlich waren es unzufriedene Jugendliche ohne besondere politische Orientierung, die ihre Wut an den Symbolen der Mißwirtschaft und des Reichtums ausgelassen und dabei auch schon mal den Namen von Fußballvereinen skandiert hatten. Am Wochenende meldeten sich nun zwei politische Gruppierungen zu Wort. Eine bisher unbekannte „Volksbewegung für die algerische Erneuerung“ erklärte ihre Unterstützung für die Demonstrationen und forderte das Ende der Einparteien -Herrschaft. Gleichzeitig versuchen islamische Fundamentalisten offenbar, die Protestwelle für ihre Ziele zu kanalisieren.

Das Militär hat inzwischen Kontrollen an den Eingängen verschiedener Krankenhäuser der algerischen Hauptstadt Algier eingerichtet und die Kliniken angewiesen, die Leichen der bei den Unruhen Getöteten nicht an die Angehörigen zu übergeben. Damit soll verhindert werden, daß es bei Beerdigungen zu neuen Demonstrationen kommt.

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