König Ubu lebt - in Brasilien

■ Das Teatro Ornitorrinco aus Sao Paulo auf seiner ersten Deutschlandreise

Brasilianer glauben nicht ans Theater, wohl aber ans Spektakel. Die großen Fußballvereine und die Fernsehanstalten haben das längst begriffen. Seriöses Subventionstheater wäre in der 14-Millionen-Stadt Sao Paulo zu teuer und zu langweilig. Mit dem Stück Ubu jedoch, einer auf brasilianische Verhältnisse zugeschnittenen Groteske nach Alfred Jarrys Zyklus vom dickbäuchigen Tyrannen, hat die Gruppe Teatro Ornitorrinco bereits 350.000 südamerikanische Zuschauer angelockt. „Die Brasilianer blieben in den 70er Jahren dem Theater fern, weil sie es zu blöd fanden. Es war wirklich saudumm. Mit Ubu sind wir zum wahren Theater, zum Ereignis, zur Verzauberung zurückgelangt“, sagt Caca Rosset, der Drehbuchautor, Regisseur und Hauptdarsteller der „paraphysischen Szenen“ ist. Die 15 Schauspieler und Musiker haben die Paulistas vor allem mit gags und stunts vom Fernsehen weg ins Parkett gelockt. Jarrys Text dient als Vorwand für circensische Effektserien.

Die schon 1896 verfaßte und mittlerweile erblaßte Allegorie - Ubu stürzt unter dem Einfluß seiner Frau den König von Polen, mordet alle Widersacher und flieht nach Frankreich, als der russische Zar ihn besiegt -, verwandelt das Teatro Ornitorrinco in eine metaphernreiche Charakterologie Brasiliens. Ubu ist mal Diktator, mal chiacrinha, der lächerlichste Showstar Südamerikas. Alfred Jarry radelt wild über die Bühne, und Mutter Ubu, diese vulgäre Abart der Lady Macbeth, jongliert Keulen und spuckt Feuer. Im brasilianischen Ubu ziehen farbige Wälder aus Menschen über die Bühne, schneit es für die Tropen exotischen Styroporschnee, prasselt ein Artilleriefeuer aus bunten Gummibällen auf das Publikum, peitschen Elektrokabel die Zuschauer und vertreibt dann in die Sitzreihen gereichter Kaffee den Schrecken.

Straßentheater im Saal und lateinamerikanische Wirklichkeit als Slapstick? Solche life-acts zum Mitmachen überbieten das massenwirksame brasilianische TV, weil Sensationen hier präsent sind - abschalten ausgeschlossen. „Bin ich der König von Polen oder nicht?“ ruft Ubu, und als die Antwort ausbleibt, verkündet er machtvoll ins Parkett: „Dieses Stück geht erst weiter, wenn ihr mir sagt, was ich hören will.“ Bald schallt es ihm Sim, sim entgegen. Und damit ist das Publikum bereits zum Komplizen der Macht erkoren. Zugleich dreist und vorsichtig, beredt und schweigsam, artikuliert sich Teatro Ornitorrinco in der Sprache Brasiliens nach 21Jahren Militärregierung: die Kritik kommt als Parodie, der politische Charakter als Blödelei daher.

Ubu war schon in der Version Jarrys kein Identifikationstheater. Der Handlungsablauf unterbricht sich selbst, Moral und Besinnung huschen vorbei wie das Weichspülgewissen der Waschmittel. Ornitorrinco spitzt diese Szenen zur Synthese aus tropischer Sorglosigkeit und streng katholischer Moral zu, etwa wenn Ubu zweifelt, ob er blutig morden soll: dann entsteigt seinem Koffer das nackte Gewissen (weiblich) und rät blaustrahlend und zirzend ab. Ihre Worte bleiben belanglos. Was zählt, ist nur die indigofarbene Erscheinung der Venus im Mondlicht, denn gleich darauf wirft der König den Koffer samt der schönen Aufrichtigen darin fort und begibt sich auf den blutigen Weg zur Macht. Die Moral als Gespenst, die Wirklichkeit ein bejubeltes Böses, das alle so wollen? Das südamerikanische Publikum hat sich bei Ornitorrinco der Unausweichlichkeit des Populismus zu fügen, das Grauen zu schauen und die Effekte zu beklatschen. Ein Wunder, daß es nicht selbst in die Falltür geworfen wird wie Ubus zahlreiche Gegner!

Brasiliens schmale Theatertradition ist noch immer vom Verbildlichungszwang geprägt, den die konservativen Regimes der kritischen Kultur auferlegt haben. Der Ubu aus Sao Paulo bleibt im Paradox befangen, auf der Grenze zur Klamotte in die verordnete Verbiederung des Karnevals und des Fernsehens zu rutschen oder im pädagogisch gemeinten Spektakel unartikuliert zu ersticken. König Ubu ist vielleicht gerade deshalb vom Polen zum Paulista mutiert, weil er im brasilianischen Hang zum Effekt seine Bedingungen findet. Sex darf dabei nicht fehlen. Wäre ohne die barbusig hüpfenden Offizierinnen Ubu ebenso explosiv?

„Unser Anliegen ist, eine Alternative zum Fernsehen zu sein, aber nicht als Theater, was sich vom Fernsehen her bestimmt und eine billige Imitation, eine bloße Erweiterung des TVs ist. Unsere Perspektive ist die des Theaters im Theater.“ Regisseur Caca Rosset ist sich des Erfolgs bei Kritikern und Zuschauern gewiß. Sein Ubu ist ein schnelles, farbenprächtiges und atemberaubendes Ereignis. Hervorragende Unterhaltung mit politischem Gestus, befanden auch Südamerikas Herren der Politik: Brasiliens Präsident Ulysses zeigte sich im Wahlkampf mit der Ubu-Truppe, der Gouverneur von Sao Paulo und der Staatspräsident von Mexiko verliehen ihre Kulturpreise.

Theodor T. Heinze

11.10. Kassel (Friedrichsplatz), 13.-15.10. Nürnberg (Theaterhalle), 17.10. Fürth (Volkstheater), 19.10. Erlangen (Markgrafentheater)