Hungerrevolte - die Quittung der Algerier

Verfehlte Planung, ineffiziente Verwaltung und mangelnde Diversifizierung haben das Agrarland Algerien heruntergewirtschaftet 50 Prozent der jungen Leute zwischen 20 und 24 Jahren sind arbeitslos / Wirtschaftsreformen kommen zu spät  ■  Von Knut Pedersen

Paris (taz) - Der schwindende Ölpreis, die galoppierende Demographie und eine verspätete Liberalisierung der Staatswirtschaft sind die Gründe des verzweifelten Aufstands in Algerien, der vergangene Woche als Hungerrevolte begann. Binnen Monatsfrist ist der Preis für ein Kilo Rindfleisch auf das Doppelte gestiegen: Rund 45 Mark kostet es jetzt: angesichts eines stagnierenden Lohnniveaus von durchschnittlich 450 Mark geht die Rechnung der Armut einfach auf. Doch selbst wenn man noch Geld hätte, viel zu kaufen gibt es nicht: Couscous, die Grundlage nordafrikanischer Alltagskost, ist bereits seit drei Monaten „ausverkauft“. Trinkwasser wird in Fünf-Liter-Kanistern auf der Straße verkauft. In Bachjarrah, einem populären Viertel auf den Höhen Algiers, ist seit Monaten kein Tropfen mehr aus dem Hahn geflossen.

In einem Durchschnitts-Haushalt in einer algerischen Stadt leben sieben Personen auf knapp 40 Quadratmetern. Mehr als 300.000 Algerier verlassen dieses Jahr die Schule ohne jegliches Abschlußdiplom. Sie haben nicht einmal die Chance, vorübergehend in der Armee unterzukommen. Mangels Geld wird seit Monaten nicht mehr eingezogen, obgleich die Ableistung des Militärdienstes Voraussetzung für jedwede berufliche Anstellung bleibt. Aber die Aussicht auf einen Job oder gar Beruf ist ohnehin zur Chimäre geworden: 17 Prozent der aktiven Bevölkerung sind arbeitslos, im Alter zwischen 20 und 24 Jahren sind es gar 50 Prozent. In diesem Reservoir jugendlicher „drop outs“ rekrutiert der gegenwärtige Straßenkampf seine erbitterten Truppen, die nichts zu verlieren haben: Sie haben nicht einmal Aussicht auf eine bessere Zukunft.

Drei Viertel der insgesamt 24 Millionen Algerier sind jünger als 30. Jedes Jahr wächst die Bevölkerung um mehr als drei Prozent. Vergangenes Jahr wurden 95.000 neue Arbeitsplätze geschaffen. Aber es hätte mindestens 200.000 neuer Stellen bedurft, um die ohnehin katastrophale Situation nicht noch zu verschlimmern.

Zwischen 1982 und 1985 belief sich die jährliche Wachstumsrate der algerischen Wirtschaft auf rund zehn Prozent. Davon ist nichts geblieben, seitdem die Preise für Erdöl und -gas in den Keller gerutscht sind. Die erwartete Wachstumsrate für das laufende Jahr soll bei knapp einem Prozent liegen - angesichts des Bevölkerungswachstums von mehr als drei Prozent bedeutet das Rückschritt. Die algerische Wirtschaft zahlt heute den Preis verfehlter Planung, ineffizienter Verwaltung und - vor allem mangelnder Diversifizierung: Mehr als 90 Prozent der Staatseinnahmen stammen aus dem Verkauf von Erdöl und Erdgas. Mitte 1985 wurde der Barrel „schwarzen Goldes“ noch für 28 Dollar verkauft. Aber mittlerweile ist das algerische „Sahara blend“ nurmehr knapp zwölf Dollar wert. Die Folge: Die Einnahmen für Erdöl und Erdgas sind von 13 Mrd. im Jahre 1985 auf acht Mrd. Dollar zusammengeschrumpft.

Für den Außenhandel Algeriens hat das um so dramatischere Folgen, als der offizielle Währungskurs des algerischen Dinar rund viermal höher liegt als der „reale“ Wert auf dem Schwarzmarkt. Vor fünf Jahren belief sich der Wert eingeführter Waren auf knapp 20 Milliarden Dollar, während heute - in konstanten Dollar - nur für sieben Milliarden im Ausland eingekauft wird. Im Klartext: Die Einfuhr ausländischer Waren und Güter ist auf ein Drittel zusammengesackt. Das aber betrifft in Algerien bei weitem nicht nur Luxusartikel: Obgleich nach wie vor 25 Prozent der Algerier auf dem Lande leben und arbeiten, werden zwei Drittel der Nahrungsmittel aus dem Ausland eingeführt. Die Pleite bürokratisch zentralistischer Planwirtschaft läßt sich kaum drastischer formulieren: mangels Einfuhr lebensnotwendiger Güter nagen die Einwohner des Agrarlands Algerien heute am Hungertuch.

„Algeriens Wirtschaft muß liberalisiert werden, um neue Produktivkräfte zu wecken.“ Mit diesem Credo versucht Staatschef Chadli Benjedid seit Anfang dieses Jahres, der heimischen Nomenklatura das Reformieren schmackhaft zu machen. Mit wenig Erfolg, was die Parteibonzen betrifft, und verheerenden Wirkungen für die Bevölkerung: Seitdem sie „Verwaltungsautonomie“ besitzen und mithin ihre Produktivität unter Beweis stellen müssen, reagieren die Staatsbetriebe mit Massenentlassungen. Allein die algerische Eisenbahn will ihren Personalstand binnen Jahresfrist von 21.000 auf 15.000 zusammenstreichen. Verständlicherweise gehen die Lohnabhängigen dagegen auf die Straße. Seit Monaten wird im ganzen Land „wild“ gestreikt. Jugendliche, denen jeden Abend am Bildschirm „heroische Akte“ ihrer Altersgenossen in den von Israel besetzten Gebieten vorgeführt werden, tragen den Sozialkonflikt nunmehr als Straßenkampf aus.

Aus „politischen Gründen“ hat Algerien sich geweigert, mit dem Internationalen Währungsfonds (IWF) einen Austeritätsvertrag abzuschließen. Das hat am sozialen Notstand nichts geändert: angesichts einer Auslandsverschuldung von rund 25 Milliarden Dollar sind jährliche Rückzahlungen in Höhe von fünf Milliarden Dollar fällig - was der Hälfte der algerischen Ausfuhrerlöse entspricht. Und eine neue Schuldenregelung ist nicht verhandlungsfähig, solange kein Abkommen mit dem IWF unterzeichnet ist. Ein naiver Tropf, wer in solch ideologischem Starrsinn „aufrechte sozialistische Überzeugung“ vermutet. Im „sozialistischen Algerien“, dessen Revolution für Frantz Fanon das Beispiel aller „Verdammten dieser Erde“ sein sollte, gibt es 26 Jahre nach der Unabhängigkeit schamlosen Reichtum, unantastbare Privilegien, aber weder politische Freiheit noch soziale Wohlfahrt. Während sich die Jugendlichen der reichen Viertel Algiers in einem halben Dutzend kostspieliger Nachtclubs die Langeweile vertreiben, gibt es für die übrigen zwei Millionen Jugendlichen zwei Stadtbäder und sieben Kinos...