Die Geworfenen der Kurve

■ Vom Hexenkessel zur Geisterbahn: Morgen beginnt das Sechs-Tage-Rennen

Heuboden wurde der Ort droben, dicht unter dem Gebälk des Hallendaches, genannt, wo Rauch und dicke Luft besonders geballt standen; jene umhüllend, die herunterstarrten in die Hamsterzentrifuge, bis ihnen die Augen tränten, und sei es nur aus Alkohol geborener Melancholie geschuldet.

Zuschauen können, wie andere sich abstrampeln, sich plagen mit tiefgebeugten Rücken, durch den Quirl geschleudert jeden Sinn vergessend auf der Endlosschleife des Lebens, wer mochte daran erinnert werden? Da unten rasen sie, der Kopf vor Anstrengung gerötet, mit pendelndem Oberkörper der Steilkurve anheimgegeben, die einer Woge gleich entgegenrollt, und drüber gellt der tosende Lärm wie Gischt. Die steile Kurve reißt die Menschlein aus der Bahn, wie Geworfene des Schicksals. Doch schon stürzen einige vom oberen Rand der Kurve herunter, den Schwung der Welle nutzend, ein wenig gradeaus, um jeden Zentimeter ringend, gehüllt in dem Lärm des eigenen Atems, und nebenan das schweißige Gesicht des Gegners. Jenes Gegners, der immer wechselnd vorwärtsdrängt, die Meter frißt, sich absetzt und endlich dann, nach langem Kampf, von hinten wieder aufschließt unterm johlenden Gebell der Menge, bis keiner weiß, was hinten ist und wer die Spitze hält; der nur strampelt, als ginge es ums Leben. Sechs Tage linksheraum; das sei dem Menschen angenehmer, sagt der Sportmediziner.

Im Gebälk dort oben hing „Krücke“, ein Männchen mit knolliger Nase und Baskenmütze. Fast so merkwürdig wie der Sarotti-Mohr, ein rabenschwarz angemaltes Figürchen, mit Schokolade durch die Reihen wandelnd, Ziel allen Spotts. Krücke saß oben im „Heuboden“, hockte immer dort, die leere Hülle seiner Hose schlenkerte, wenn er sich im Gebrüll nach vorne warf ans Geländer. Ein Krüppel, deren gab es viele, er aber hatte das nicht vom Krieg, wie alle dachten, sondern von der Straßenbahn, die einst ihn überfuhr. Wie gern hätt er gestrampelt, und viele von denen droben auf der Galerie wollten auch, nur etwas tun, statt dessen Zeit im Überfluß.

Die in dem Kessel rasten, und des Zuschauers Schreilust raste mit. Dort mußte man schreien, mag sein, daß sie schrien, um das zu vergessen, was der Krieg an Schreien in das Hirn gehämmert hatte; all die Schreie vom Führer-Heil vergessen machend; vergessen, was an diesem Ort geschrien worden war vom Stahl statt Butter und dem totalen Krieg. In dem engen Oval des Sportpalastes tobte eine andere Schlacht, und Krücke stopfte sich die Finger in den Mund, als wolle er dran ersticken, das Gesicht verzerrt, und dann kam endlich doch ein Ton; jener Sportpalastwalzer, der „sein“ Lied war. Diese Töne waren seine Lebensschnur aus der Tristesse, einmal im Jahr für sechs Tage.

Max Schmeling, dem er dessen Weltmeistertitel im Boxen vorausgesagt hatte, Anfang der dreißiger Jahre, schenkte dem arbeitslosen Krücke nach seinem Sieg in USA einen Zigarrenladen. Den behielt der nicht lange. Weil er auch weiterhin jüdischen Kunden eine Zigarre verpaßte, wurde er von den Nazis boykottiert und mußte sein Geschäft aufgeben. Und nach dem Krieg gab es erst recht keine Arbeit für ihn. So saß er wieder im Sportpalast, zwischen den Hungrigen, die zwei Beine hatten und strampeln konnten und wollten. Der „Meinungsmacher von der Galerie“, - die eklig falsche schulterklopfende Floskel für das „Original“ mit der zweifelhaften Berühmtheit, auf den die Jungen verstohlen mit dem Finger zeigten - , ertrug das Odium aus Mitleid und ehrerbietiger Hänselei, bis er 1964 starb. Er war der letzte, der für und durch das Rennen lebte.

Der Sportpalast verschwand 1972 in der Baggerwolke. Er mußte abgerissen werden, mußte begraben werden unter einer Mietskaserne; all das Schreien konnte diesen Ort nicht wieder reinigen von Goebbels Schreien. Da war Krücke schon tot, und auch das Sechs-Tage-Rennen schleppte sich dahin. Die Menschen, die nach dem Krieg mit hungrigen Augen auf das Lattenoval starrten, wenn drunten um Freßpakete gespurtet wurde, die hatten selber Arbeit. Die Akteure wollten nicht mehr wie 1949 für zwei Schreibmaschinen als Lohn (zum Umtausch auf dem Schwarzmarkt bestimmt) in die „elliptische Tretmühle“, wie Egon Erwin Kisch den Mahlstrom nannte, noch die Zuschauer ihre kreisende Unrast gespiegelt sehen.

„Auf dem Weg in die letzte Runde“, hieß es fragend immer wieder, seitdem die Radler in die Deutschlandhalle umzogen. Das filigrane Gespinst aus oben und unten, die unabdingbare Balance von Berühmt und Außenvor stimmte nicht mehr. Jene Gemengelage schwand dahin, die das Sechs-Tage-Rennen in den dreißiger Jahren zum gesellschaftlichen Ereignis machte, an dem kein Star vorbeikam: wo Richard Tauber im Rauch die Stimme strapazierte und Hans Albers mit einem Feind den Streit per Rad austrug. Nicht nur die Fahrer hingen Tag und Nacht mit täglich drei Stunden Schlaf auf den Sätteln, sondern auch die Zuschauer drängten nicht nach Hause, weil in der großen Krise weder Arbeit noch ein warmer Ofen warteten.

Mühsam geriet nach dem Krieg das Karussel wieder in Schwung. Es war nicht die fehlende Faszination, es war der nackte Mangel, der bremste. 1953 mußte das Rennen nach zwei Tagen wegen Ebbe in der Kasse abgebrochen werden. Heutzutage brächten die drei tödlichen Stürze auf der kriegsverwellten Ersatz-Fahrbahn unterm Funkturm der Branche vielleicht den rechten Zuschauer-Kick, damals aber hatten die Menschen noch die Schnauze voll vom Sterben. Das hatten sie zu oft gesehen, um es als Unterhaltung durchgehen zu lassen. Und später, als in den Sechzigern die Rudi Altigs, die Klaus Bugdahls und Rik van Steenbergens durch die Halle pedalten, da war es Unterhaltung zuwenig. Nun lockte die weite Welt des selbstverdienten Fernsehers in den Ärmel-aufkrempeln -anpacken-Wohnhöhlen mehr. Die Prominenz blieb aus. Das Rampenlicht war frei für Helen Vita und selbst Günther Pfitzmann durfte im letzten Jahr sein Vorstadt-Grinsen dem Scheinwerfer darbieten.

Mehrten sich auch die negativen Schlagzeilen, die Veranstalter stemmten sich gegen den Zug der schrägen Ebene, wollten im Rennen bleiben. „Der Zuschauer will für sein Geld auch den richtigen Rummel haben“, sollte die Zauberformel fürs Überleben sein. Deswegen wurden die Rennen mit Sonderspurts, mit Fahrten hinter Motorrädern und immer neuen Prämienjagden aufgepeppt, wurde im Nebenraum gecatcht, und im Innenraum konnte die auf wackligen Beinen stehende Abfüllkundschaft beim vollautomatischen Rodeo den Bullen raushängen lassen, bis es sie doch in den Staub warf.

Vergebens. Die Zuschauer wurden immer weniger, der einstige Hexenkessel verödete zur Geisterbahn. Im Kessel rührten lediglich die Profis ihre Suppe; gut abgestimmt kam man zum Ziel, zum Ärger der Veranstalter und Zuschauer, die sich geneppt fühlten. Was die Sechs-Tage-Rennen am Laufen hält, sind allein die laufenden Hähne am Tresen. Eine Sturzflut durch die defekte Sprinkleranlage, die 1980 die Deutschlandhalle unter Wasser setzte, machte kaum einen Zuschauer naß und freute nur die Fahrer, denen ein Tag Strampelei erspart blieb. Die Hochseilartisten kamen - welch falsche Dramaturgie, den Blick von der Tretmühle in die Höhe heben zu wollen. Als 1983 eine Frau am Boden zerschellte „die Gier des Publikums läßt keine Netze zu“ - war auch dies vorbei.

Den nackten Schenkeln der Radler gesellten sich die nackten Titten zu, die freigiebig im Innenraum der großen Null geschwenkt wurden. Vom Sitz rissen die Damen oben ohne oder ganz nackt keinen mehr. Nur wenn die „Miß Kurve“ eine Ehrenrunde fuhr, auf der Stange des führenden Fahrers, der dann ganz sanft „stürzte“ und auf der drallen Frau zu liegen kam, dann grölte es juchzend zum verrauchten Himmel.

Ab morgen ist es wieder soweit; dann rollt in der Deutschlandhalle der Bahn-Express. Das es der letzte Durchgang des traditionsreichsten Sechs-Tage-Rennens der Welt sein könnte, wird allenthalben gemunkelt. Im letzten Jahr kamen knapp 40.000 Zuschauer in die Halle, nur: weniger als die Hälfte haben selbst gezahlt, der Rest waren Freikarten. Das lange Kämpfen ist aus der Zeit gerollt, so überflüssig wie ein Furunkel am Arsch vom vielen strampeln. Wenn jeder tritt und rempelt, den Kopf tief herab gebeugt und nicht nach links und rechts schauend, stampfend die Pedale nach unten hebelt, um nach oben zu kommen, wer braucht da noch den Hamsterkäfig des falschen Lebens?

Gerd Nowakowski

Das Rennen beginnt ansonsten jeden Abend um 19 Uhr. Eintrittskarten ab 20 DM im Vorverkauf an der Kasse der Deutschlandhalle, Mo-Fr zwischen 12 und 18 Uhr, Samstag 10 bis 14 Uhr, sowie an allen Vorverkaufsstellen.