Fußball aus dem Lehrbuch

■ Flügelwechsel, Doppelpaß, doppelter Doppelpaß, Diagonalpaß, Finten - beim 5:0 gegen Dynamo Berlin lief für Werder Bremen am Dienstag alles wie gewünscht

„Wunder kommen selten, dann aber zum rechten Zeitpunkt“, stellte Werder-Trainer Rehagel nach dem 5:0-Erfolg gegen Dynamo Berlin fest. Und erinnerte an das 6:2 über Spartak Moskau im UEFA-Cup vor einem Jahr. Ein Vergleich, der oft gezogen wurde. Allerdings: Dienstag

abend im Weserstadion lief ein anderes Spiel: nicht wie im Vorjahr ein dramatisches Hin und Her im Nebel, das die Zuschauer von Jubel in Ängste von Trauer zu Überschwang beförderte und erst nach 120 Minuten aufatmen ließ.

„Arbeit, gute Arbeit trägt Früchte“, auch das sagte Otto Rehagel Dienstag. Und damit hat er das Wunder wohl besser erklärt. Es war ein Fußballspiel, in dem alles nach Plan und mit akkurater Logik ablief.

Die ersten fünf Minuten war Werder hektisch. Ein schnelles Tor, so hattens die Medien gefordert, es musste her. Das Tor fiel erst nach zwanzig Minuten. Dafür fiel es folgerichtig. Die Berliner hatten die Kritik am Werderspiel der letzten Wochen gut studiert und sich auf die Kopfballabwehr von Flanken vorbereitet. Stattdessen versuchten es Meier, Burgsmüller und Riedle mit dem Ball am Fuß. Und da das Umschalten von Kopf auf Fuß bei den DDR-Spielern arg lange dauerte, stand Ruweleits Tor unter Dauerbeschuß. Als schließlich Bratseth, der Libero, auch noch mit dem Ball am Fuß in Berlins Strafraum spazierte, blieb ein Tritt in die Füße die letzte Chance der Berliner. Den Elfmeter verwandelte Kutzop.

Nicht nur der hatte sich damit die letzten psychischen Barrieren aus dem Kopf geschossen. Die ganze Werder -Mannschaft spielte, als sei Fußball ein Ganzkörperspiel. Immer in Bewegung, mit einem Ball, der an den Füßen zu kleben schien (nimmt

man mal Jonny Otten aus, der selber am Gegner klebte und das war immerhin der DDR-Superstar-Thom). Was im Kopf registriert wurde, war schon mit dem Ball ausgeführt. Kombinationsfußball heißt das im Fußball-Lehrbuch. Flügelwechsel, Doppelpaß, doppelter Doppelpaß, Diagonalpass,

Finten. Kapitel für Kapitel wurde das Lehrbuch aufgeblättert und exakt, aber nie schematisch, durchgespielt.

„Wenn alle Mannschaften einmal im Jahr solche Spiele zeigen, dann ist der Fußball nicht tot“ - noch einmal Otto Rehagel. Aber dazu muß die Mannschaft natürlich das Fußball -Lehrbuch in-und auswendig können. Und zwar alle Seiten, nicht nur die über Kondition und Taktik. Und der Trainer muß ihre Anwendung zulassen.

Unterstellen wir einmal, die Berliner hätten es auch gekonnt, so durften sie nicht. Sie spielten von der ersten Minute an nach dem Motto „bloß nicht zu weit nach vorn mit dem Ball“. Ängstlich, nannte ihr Trainer Bogs das hinterher. Er verschwieg: Die Anweisung, vorsichtig zu spielen, hatte er selbst abgegeben.

„Es gibt wenige hier (im Stadion, die Red.), die was von Fußball verstehen“, auch das sagt Otto Rehagel. Und meint damit das gleiche wie weiland Sepp Herberger, der gesagt haben soll: „Der Ball ist rund, das nächste Spiel ist das schwerste“. Selbst wenn eine Mannschaft alles, was Fußball ansehnlich und spannend macht, beherrscht - sie zeigt das nur höchst selten in den Stadien. Dazu müssen besondere Umstände eintreten. Psychische Konstellationen, über die gemutmaßt werden darf. Auf jeden Fall: dieses Spiel war schön. Es hat das Zeug, zur Legende zu werden. Im Fußball bringen Legenden Zuschauer und Geld.

Dieter Mützelburg