Alt-Glass-Recycling

■ Achim Freyers Stuttgarter Innovation der Glass- und Wilson-Oper 'Einstein on the Beach‘ hatte in Ludwigsburg Premiere

Gabriele Riedle

Unweit vom Residenzschloß ist das 'Forum am Schloßpark‘ entstanden, ein Bauwerk, das die künftige Kulturgeschichte Ludwigsburgs ebenso prägen wird, wie seine Schlösser“, wirbt wahrheitsgemäßer als wohl beabsichtigt das vor einem halben Jahr eröffnete pompmoderne Fürst-Class-Kultur- und Kongreß -Zentrum (mit parlamentarischer Bestuhlung im Theater- und Konzertsaal, a.w. Klapptische etc.). So haben es die früher bescheidenen Ludwigsburger Schloßfestspiele zu einem neuen Häusle gebracht und ihr ehemals ebenso bescheidener Chefdirigent Wolfgang Gönnenwein zu einem Kabinettsposten, ohne Portefeuille, dafür aber mit großem Portemonnaie. Und das Breitspurkulturum nennt sich jetzt Internationale Festspiele Baden-Württemberg.

Wahrlich, wahrlich, nicht länger werden schwäbische Schulausflügler sich mit dem „Blühenden Barock“ der württembergischen Residenz als primärem Bildungsgut zufriedengeben müssen; auch im Land der G'rad'-Liner herrscht mittlerweile Neuer Kurvenreichtum: So sehen die Wände im Zuschauerraum des Theatersaals mit Lack und Beton aus, als wären sie aus echtem Marmor, der so tut, als wollte er das Marmorimitat einer Renaissancekulisse aus Pappmache nachahmen. Die Imitation der Imitation der Imitation.

Auf der Bühne kommt es noch verwundener. Denn dort innoviert Achim Freyer, in Coproduktion mit Gönnenweins Stuttgarter Staatsoper, Phil Glass‘ und Robert Wilsons frühe Minimal-Oper Einstein on the Beach aus dem Jahr 1976. Und deren Violinsoli spielt der Geiger gerade so, als wären sie von Bach - mit Rubato und dem obligatorischen barocken Schnick-schnack.

„Achim Freyer hat wieder geträumt“, schrieb Die Zeit neulich zu Freyers Vorarbeit für die Ludwigsburger Premiere, über die Berliner Werkstattaufführung seiner Szenen und Sprachkompositionen mit dem bei Dali entlehnten Schlängeltitel So wie eine Art Fisch, dessen Kopf herzzerreissend dem einer Heuschrecke gleicht. In guter alter surrealistischer und gleichzeitig in lang erprobter lehranalytischer Tradition träumt Freyer den Traum, von dem der Analysant meint, daß der Analytiker ihn von ihm erwarten würde. Denn im Gegensatz zu den Bildüberproduzenten der surrealistischen Branche ist Freyer kein sinnverwirrender Begriffsanarchist, sondern preußisch-beamtischer Abbildner. Dessen vornehmste Pflicht ist es, was längst vorgedacht, der Sinnenwelt entrissen und Begriff geworden ist, brav ins Vorbegriffliche rückzuübersetzen. Und schon stottert der schöne neue Kunstmotor, der in diesem Fall das Denken der sponsornden Daimler-Benz-AG antreiben sollte. Denn Freyer wiederholt, was ohnehin schon jeder weiß, in seinem Kinderbuch der Philosophie des 20.Jahrhunderts inklusive Kunstgeschichtsrevue (Starring: Dali, Kokoschka, Schlemmer, De Chirico u.v.a.). „Hundert Meisterwerke“ in viereinhalb Stunden: die Zuschauer bewegen sich nicht mehr an den Bildern, sondern die Bilder an den Zuschauern vorbei. Ein mobiles Museum.

Alles nett unterlegt mit Texten von Dali, Chlebnikov, Ernst, Picabia, Wittgenstein, Artaud und dem Dadaistischen Manifest plus one-two-three-four-five-six-seven-eights der Endlosklänge von Phil Glass.

Den Zuschauern wird im Programmheft gesagt, wo's lang geht. Schriftlicher Auftritt: Albert Einstein. „Wenn hier von 'Begreiflichkeiten‘ die Rede ist, so ist dieser Ausdruck hier zunächst in seiner bescheidensten Bedeutung gemeint. Er bedeutet: Durch Schaffung allgemeiner Begriffe und Beziehungen zwischen diesen Begriffen und Beziehungen zwischen diesen Begriffen und Sinneserlebnissen irgendeine Ordnung herzustellen.“ Dem Kandinsky-Epigonen Freyer bedeutet die Bedeutung dann umgekehrt wieder „Punkt und Linie zur Fläche“, erweitert durch die beliebten Schlagwörter „Raum und Zeit“, die notfalls auch noch Dia -projeziert werden und ansonsten allerliebste bunte Rauten, Quadrate, weiße Punkte etc. (alles auf dem schwarzen Grund der zweidimensionalen Bühnenfläche) zur Folge haben. Wenn's dann um die Erkenntnis des „individualistischen neurotischen Menschen“ geht und die „Loslösung seiner Körperbereiche zu unkoordinierbarer Vereinzelung“ wg. „heutiger Spezialisierung“, dann fliegen - wir raten - prompt einzelne Körperteile, Arme, Beine, Hände übers Bild, bis schließlich „die Druckwelle der Explosion“ ihre „unbarmherzige Schönheit und Größe“ hat und „die Atomisierung aller Elemente im vierten Akt zu einer sich selbst verselbständigenden unaufhaltsamen Gewalt“ in Form von einzelnen herumirrenden Linien wird. Das passende Sinneserlebnis zum Begriff vom Sinneserlebnis, bei denen überdies Mechaniker so elektronisch tun, als wären sie Silizium-Kristalle.

Denn was auf dem von einem Gazevorhang grün gerasterten schwarzen Bühnenbildschirm erscheint, sieht aus wie die Computersimulation der Bewegung von zu dreidimensionalen Körpern gewordenen zweidimensionalen Flächen im Pseudo-3D -Raum. Nur daß über diesen Bildschirm schwarze Schatten von lauter kleinen Helferlein huschen, die die unsichtbaren Objekte bewegen und vor allem richtig fleischerne Drahtzieher, die genauso beruhigen wie die kindliche Vorstellung von kleinen Mündern, die im Radio sitzen.

Kunst macht nach, wie Computer Kunst nachmachen - die Simulation der Simulation - nur nicht so perfekt und nicht so modern. Redundanter geht's nimmer. Das ist die künftige Kulturgeschichte.

Ab 20.Oktober im Staatstheater Stuttgart, Inszenierung, Bühnenbild, Kostüme, Szenische Neufassung, Textkomposition: Achim Freyer; Musikalische Leitung: Michael Riesman, Neue Vocalsolisten Stuttgart, Junges Philharmonisches Orchester Stuttgart.