: Hoffnungslose Partei, aussichtsreiche KandidatInnen
Wenige Monate vor den nächsten Berliner Abgeordnetenhauswahlen feiert die Alternative Liste ihren zehnten Geburtstag im Wechselbad zwischen Hoffnung und Verzweiflung / Der Pragmatismus setzt sich ■ Aus Berlin Brigitte Fehrle
„Wir schulden unseren Träumen noch Leben.“ Ganz begeistert entschieden sich die Mitglieder der Alternativen Liste Berlin für diesen sentimental verquasten Wahlkampfspruch. Träume jedoch haben die Aktiven in dieser Partei keine, jedenfalls keine, die die Qualität von Utopien für Berlin hätten. Und die Parteirealität? Die gleicht eher einem Alptraum. Nach zehn Jahren ist die Alternative Liste noch immer ein Zwitter. Partei ist sie nicht, dazu fühlt sie sich den Bewegungen zu sehr verpflichtet. Der „bunte Haufen“ aber, wie sie sich in den Anfangsjahren so gerne titulieren ließ, ist sie schon längst nicht mehr.
Grade zu ihrem zehnjährigen Geburtstag schickt sich die AL an, ihren vierten Wahlkampf zu führen. Zweckoptimisten wie der Rechtsanwalt und ehemalige Bundestagsabgeordnete Christian Ströbele prophezeihen ihr einen sensationellen Wahlerfolg und 18Prozent der Stimmen. Daß Pragmatiker eher mit ein paar Prozenten weniger als im Jahr 1985 rechnen, als die Liste 10,6 Prozent erhielt und 15 Abgeordneten ins Rathaus Schöneberg schickte, verdeutlicht ihre Schwäche. Denn eigentlich müßten die Bedingungen für die AL ideal sein: Die regierende CDU ist tief belastet mit dem unaufgearbeiteten Bauskandal, der hinter dem Bundesgebiet herhinkenden Wirtschaftsentwicklung mit nahezu 100.000 Arbeitslosen, der angelaufenen Mietpreislawine durch den Weißen Kreis und einem neuen Flächennutzungsplan, der Kleingärtner und Grünflächen bedroht. Hinzu kommt eine SPD, die ihren Erneuerungsprozeß noch längst nicht abgeschlossen hat.
3.000 Mitglieder zählt die Liste heute in ihrer Kartei. Doch zur parteiinternen Willensbildung beizutragen, fühlen sich die Wenigsten berufen. Zwar werden Personalentscheidungen noch mit 2 - 300 Leuten getroffen, für programmatische Debatten aber interessieren sich keine Hundert. Und der Versuch, per Wahlprogramm den Richtungsstreit in der Partei zu überwinden, ist mißlungen. Im Gegenteil, die Kluft zwischen denjenigen, die weg wollen von der bekannten Kapitalismus- und Industriekritik, und denjenigen, die festhalten an den Traditionen der Linken, wird größer. Folgt man den jeweiligen Parteigängern, stehen sich „linke Sektierer“ und „liberale Yuppies“ gegenüber.
Trotz unversöhnlich geführtem Programmstreit aber überwog bei der Aufstellung der KandidatInnen für die Abgeordnetenhauswahl der den BerlinerInnen eigene Sinn fürs Pragmatische. Erspart bleibt der AL die Frage nach einer Koalition mit der SPD; aus bloßer Arithmetik, denn keiner rechnet mit einer Mehrheit der Opposition.
Die AL wählte die bereits erwiesene Kompetenz und die politische Mitte. Angeführt von drei Frauen, steht an der Listenspitze Heidi Bischoff-Pflanz, die für eine profilierte Asylpolitik steht und sich bereits als ausdauernde Widersacherin des Ex-Innensenators und jetztigen Bundestagsabgeordneten Heinrich Lummer erwiesen hat. Die Hälfte der aussichtsreichen Listenplätze werden von ehemaligen Abgeordneten belegt. Ausgegrenzt wurden alle „Extreme“. Der 23jährige Kandidat des Jugendbereichs, der angab, das Parlament als „Bühne“ benutzen zu wollen und ansonsten der Revolution zuzustreben, bekam keine Chanche. Aber auch dem Türken mit deutscher Staatsbürgerschaft, der als Betroffener Ausländerpolitik im Abgeordnetenhaus machen wollte, erteilte die Partei eine Abfuhr.
In der politischen Öffentlichkeit spielt die Alternative Liste kaum eine Rolle. Es gibt derzeit kein Politikfeld, das die AL besetzt halten würde. Sie hat der CDU in deren ideologisch und politisch großen Themen der Sozialpolitik und der Kulturpolitik nichts entgegenzusetzen. Die Chance, Utopien für Berlin zu entwickeln, hat sie bislang nicht genutzt. Warum sie denn grade in Berlin kandidierten, sollen die KandidatInnen auf der letzten Mitgliederversammlung beantworten: „Weil ich hier wohne“, antworteten die meisten und bewiesen, daß sie die Frage völlig mißverstanden haben. West-Berlin in seiner spezifischen Situation inmitten der DDR, geteilte Stadt, von den drei alliierten Westmächten regiert, erweckt in den ALern keine Visionen. Daran ändert auch die - zudem noch umstrittene - Formel im neuen Wahlprogramm „West-Berlin wird Modell einer zivilen Gesellschaft“ nichts. Sie bleibt Wunschvorstellung, weil die Frage nach Umsetzung, Wegen und der Durchsetzung völlig offen bleibt. Auch dieses Politikfeld überläßt die AL dem Regierenden Bürgermeister Eberhard Diepgen, CDU. Doch auch außerparlamentarisch bietet die Liste ein unklares Bild. Das außerparlamentarische Standbein moniert, das Spielbein sei schuld an seinem Muskelschwund. Der eigentlichen Frage, warum die Menschen immer nur punktuell und kurzfristig und zunehmend weniger politisch aktiv sind, kommt die Liste nicht auf die Spur. So bleibt ihr nur die Rolle der Hüterin der demokratischen Spielregeln bei Randale und Krawallen und die der Anklägerin von Polizeiübergriffen. Schon fast zum Ritual geworden ist die immer wiederkehrende und sicherlich richtige Forderung nach dem Rücktritt des derzeitigen Innensenators Wilhelm Kewenig (CDU).
Die Hoffnungen auf Weiterentwicklung von Politik und Praxis gelten derzeit nicht so sehr der Partei, als der neuen Fraktion. Jetzt, nachdem die Rotation abgeschafft wurde, die Neuen also vier Jahre die Parlamentsplätze besetzt halten werden, erwartet man Kontinuität und politischen Realismus und Profil.
Doch was die Hoffnung der einen, ist der Horror der anderen. Der Ex-Abgeordnete und Aktionspolitologe Dieter Kunzelmann ist nicht der einzige, der die Liste zur Denkpause aufgefordert hat. Innerhalb der Partei ist die Zahl derer, die die AL lieber auf der Straße denn im Rathaus sehen würden, groß. Ein Kreuzberger Aktivist hat seine Geburtstagswünsche zum Zehnjährigen denn auch darauf gemünzt: „Ich kann der AL nur wünschen, daß sie sich wieder auf ihre Gründungskonzeption besinnt und sich nicht weiterhin so schamlos vom Parlamentarismus verarschen läßt“.
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