Kein Weg zurück zum Irrenhaus

Gespräch mit der Senatorin Franca Basaglia, der Frau des 1980 gestorbenen Franco Basaglia, der in Triest das erste italienische Irrenhaus auflöste über die Umsetzung und Weiterentwicklung des „Gesetz 180“  ■  I N T E R V I E W

taz: Frau Senatorin, ist die Tatsache, daß Agostino Pirella in Turin aus seinem Dienst als Verantwortlicher für die Psychiatrie in Piemont entlassen wurde, nun ein Zeichen dafür, daß erneut mit einem Angriff der Parteien, insbesondere der Sozialisten auf die Substanz des Gesetzes 180 zu rechnen ist?

Franca Basaglia: Nun, zunächst einmal geht dieses Ereignis auf die regionale Situation zurück. Ich glaube, daß das Vorgehen des sozialistischen Gesundheitsministers in Piemont nicht einem Plan der Sozialisten im nationalen Maßstab entspringt. Aber gleichwohl gibt es eine allgemeine politische Situation in Italien, die man beschreiben könnte als eine Verweigerung, die Widersprüche zu akzeptieren, die das Gesetz 180, das ja alle bisher bestehenden psychiatrischen Einrichtungen das Landes angreift, logischerweise hervorruft.

Das ist die reale Situation, die etwa drei Jahre, nachdem das Gesetz in Kraft trat, begonnen hatte, das heißt etwa um das Jahr 1982 herum. Da begann sich das politische Klima zu wandeln.

Was heißt das?

In den siebziger Jahren hat es eine große Öffnung der Gesellschaft in Italien gegeben und zwar mit dem Auftauchen der sogenannten neuen politischen Subjekte: die Bewegung der Frauen, das Auftauchen der Emarginisierten (Randgruppen, gesellschaftlich Ausgeschlossene, ein Übersetzungsversuch der Korr.in), der Behinderten, der Homosexuellen. Diese neuen Subjekte, die in der politischen Szenerie auftauchten, hatten in den siebziger Jahren eine Vormachtstellung erlangt und einen großen Schub an sozialen Reformen hervorgerufen. Mit dem Beginn der achtziger Jahre begann das politische Klima diese kaum geöffneten Räume wieder zu schließen. Diese Bewegungen der Befreiung, der Emanzipation gerieten in eine Situation der Defensive.

Was bedeutete das für das Gesetz 180?

Nun, das Gesetz entsprang schließlich diesen Emanzipationsbewegungen. Da nun permanent die Durchführungsgesetze, die eigentlich folgen mußten, ausblieben, und keine Bewegung mehr Druck machte, blieben als Opfer eines nichtdurchgeführten Gesetzes die Familienangehörigen übrig, deren Anklagen die Öffentlichkeit bestimmten. Seit 1982 diskutierten die Parteien, die Massenmedien nur noch über die Undurchführbarkeit des Gesetzes und mithin über die Notwendigkeit, das Gesetz 180 zu modifizieren.

Eine offensichtlich verfehlte Diskussion. Denn dieses Gesetz war genereller bzw. prinzipieller Natur. Es formulierte die Grundlinien der Psychiatriereform, das heißt'die vollständige Verlagerung der psychiatrischen Versorgung von der Klinik auf die territorialen Dienste. Das bedeutete natürlich den totalen Bruch mit der Kultur der Medizin, die ja sich am Klinikbett orientiert. Mithin ist die Dimension der Widerstände leicht nachzuvollziehen.

Am Anfang reagierten die Ärzte gegen das Gesetz mit „wilden Entlassungen“, schmissen Patienten einfach auf die Straße und zwar in Massen.

Gilt diese Situationsschilderung auch für den gegenwärtigen Augenblick?

Nun, da in den Jahren das Gesetz 180 dem guten oder bösen Willen der Verantwortlichen überlassen wurde, gab es nicht nur Proteste, sondern es entstand auch eine völlig unübersichtliche Situation. Nun gibt es aber seit zwei Jahren endlich eine Untersuchung, die einzige die überhaupt im nationalen Maßstab unternommen wurde, eine Untersuchung des Nationalen Instituts für Sozialforschung. Diese Untersuchung bezieht sich auf das Jahr 1984.

Die Ergebnisse zeigen auf der einen Seite ein Desaster. Aber es gibt ein absolut unwiderlegbares Ergebnis: vierzehn Prozent der neu eingerichteten psychiatrischen Dienste sind erfolgreich gewesen, den Bedürfnissen der Bevölkerung gerecht zu werden, das heißt, sie haben real das Irrenhaus überflüssig gemacht. Von diesem Ergebnis muß man ausgehen und nicht noch einmal zehn Jahre über die Modifizierung des Gesetzes reden.

So habe ich zusammen mit der Gruppe der Unabhängigen Linken im Senat einen Gesetzesvorschlag eingebracht, der das formuliert, was eigentlich längst die Regierung hätte vorschlagen müssen, zum Beispiel die notwendige Finanzierung. Bislang nämlich absorbieren die Kliniken, in denen immer noch etwa 50.000 Patienten sind, genau die Gelder, die eigentlich zum Ausbau der territorialen Dienste genutzt werden sollten.

Was sind die Chancen dieses Gesetzesvorschlags?

Dieser Vorschlag liegt im Augenblick dem Gesundheitsausschuß vor, wird aber in den nächsten Monaten große politische Auseinandersetzungen hervorrufen. Wohlgemerkt: in Italien will niemand mehr zum Irrenhaus zurückkehren, aber der Kampf wird sein, den Politikern begreiflich zu machen, daß die territorialen Dienste Betten haben müssen, auch wenn man von der Klinik weg will. Man begreift noch nicht, das Langzeitpatienten nichts mit irgendwelcher chronischen Krankheit zu tun haben, sondern daß sie Produkt der Unfähigkeit der territorialen Dienste sind, etwas für Langzeitpatienten anzubieten.

Noch einmal: Hat sich das politische Klima inzwischen geändert, so daß ein solcher Gesetzesvorschlag eine Chance hätte?

Die wichtigste Änderung im Gesamtbild dieser Auseinandersetzungen ist wohl der Auftritt der Angehörigenvereine. Am Anfang klagten die Angehörigen an und forderten Rückkehr zur Internierung der Verrückten. Allerdings waren diese Forderungen mehr oder weniger maskiert. Jetzt aber, seit etwa fünf Jahren, haben sich Angehörigenvereine gebildet, die für das Gesetz 180 sind und immer vehementer die Durchführung fordern.

In einigen Regionen haben sie die Regionalverwaltungen derart unter Druck setzen können, daß diese sich beeilten, blitzschnell die psychiatrischen Dienste einzurichten, die sie seit fünf Jahren schon hätten einrichten müssen. Inzwischen gibt es fünfundzwanzig Angehörigenvereinigungen...

Und fühlt man inzwischen in Rom das politische Gewicht dieser Vereinigungen?

Aber ja. Außerdem: Es war ein Teil unserer Arbeit in den letzten Jahren, die Legitimität der Anklagen der Angehörigen anzuerkennen und zu verteidigen. Wir haben ja die Irrenhäuser nicht schließen wollen, weil wir etwa der Meinung wären, das Seelische existiere nicht. Für uns war das Gesetz 180 ein Ausgangspunkt, an dem klargestellt wird, daß das Irrenhaus eben keine Antwort auf das seelische Leiden darstellt.

Eine letzte Frage: Wenn man die Praxis in Triest mit der zurückgebliebenen Situation in Italien vergleicht, frage ich mich manchmal, ob nicht die einzigartige Erfahrung von Triest auch dazu verurteilt ist, eine isolierte Erfahrung zu bleiben.

Das glaube ich nicht. Einmal gibt Triest immer die Chance, darzustellen, was das Gesetz 180 für Möglichkeiten den Menschen eröffnet, welche Rechte es ihnen gibt, wenn es in seiner Totalität auch angewandt wird. Im übrigen wandern die Mitarbeiter aus Triest inzwischen durch ganz Italien, von Livorno bis Bari sind die Spuren ihrer Arbeit unübersehbar.