Angelus novus in Triest

■ Bericht über einen Psychiatriekongreß in Triest, bei dem es um viel mehr als um Psychiatrie ging / Sprache, Kultur, Unternehmensführung, Wissenschaftskritik - die Triester Psychiatrie, die das Irrenhaus zerstört hat, stellt Fragen in alle Richtungen / Wichtige Erkenntniss: Das neue Psychiatriegesetz erzwingt Änderung des Zivilrechts

Klaus Hartung

„Ein weißes Schiff für Die weiße Stadt, wie der Titel des Romans von Umberto Saba heißt!“ Die Triester Lokalzeitung 'Il Piccolo‘, die gewöhnlich mit unermüdlicher Gehässigkeit die Praxis der örtlichen Psychiatrie seit den Tagen der Ankunft Basaglias begleitet, sah sich zu dieser literarischen Emphase ermuntert: neben dem Kongreßgebäude, der ehemaligen stazione marittima, in dem für fünf Tage die „questione psichiatrica“ verhandelt werden sollte, hatte die weißgestrichene „Adriana“ angelegt - ein jugoslawisches Passagierschiff mit 600 Betten für die Kongreßgäste. Dieses Schiff sorgte nicht nur für Unterkunft und Verpflegung, es war vielmehr so etwas wie eine politische Geste in der Form von 20.000 Bruttoregistertonnen. Die Psychiatrie, von Haus aus beauftragt, Schmutz und Elend zu verwalten und das ausgeschlossene Drittel der Gesellschaft zu kontrollieren, erhob gewissermaßen den Anspruch auf Luxus, auf ein Unternehmertum diesseits der Barriere des Sozialstaates. Ein weißes Schiff

Um mit einem Exkurs zu beginnen: Die Anmietung der „Adriana“ war keineswegs eine selbstverständliche Geschichte. Schon die Banken fragten bei der Kreditvergabe überaus erstaunt, woher denn die Kooperative „Posto delle fragole“ (Erdbeerplatz) denn die Macht habe, eine solche Initiative zu starten. Die „Bankitalia“ hatte zur selben Zeit vergebens versucht, für eine Bankierstagung ein Schiff zu mieten. Die Banken wurden vom Hoteliersverband brüsk abgewiesen. Die Lokalzeitung 'Il Piccolo‘ setzte am Schluß des Kongresses noch einmal eins drauf: Dieses Schiff schädige den Fremdenverkehr. Es sei ein Verlust von 3.000 Übernachtungen. Außerdem: mit der „Adriana“ wehe die jugoslawische Flagge über den Hafen, eine Horrorvision, denn für viele Triester ist nicht die Zeit des „Gaus Adria“ unter den Nazis das historische Trauma, sondern die Besetzung durch die jugoslawische Partisanenarmee. Aber der Reporter vom 'Piccolo‘ mußte konsterniert feststellen, daß nicht einmal die Konkurrenz, die Hoteiersvereinigung, protestierte. Der Präsident Gandolfi erklärte vielmehr, sie selbst seien es gewesen, die die Anmietung der „Adriana“ erlaubt hätten, und zwar wegen der „sozialpolitischen Bedeutung des Kongresses“. Was bringt also einen Hotelier, einen Triestino per bene, mithin eine besonders hartnäckige Form des mitteleuropäischen Bourgeois, dazu, politische Gründe für einen Einnahmeverlust anzuerkennen? Nun, in den Verhandlungen hatte Gandolfi akzeptiert, daß die wichtigsten politischen und kulturellen Impulse für die Stadt von der Psychiatrie ausgehen und daß es im wohlverstandenen Interesse des Hotelgewerbes sei, einen Beitrag zu leisten.

Ein anderes Detail, vielleicht noch aufschlußreicher für den Ausbruch dieser Psychiatrie aus der Psychiatrie: Kaum hatte das Schiff angelegt, begann ein versteckter Machtkampf zwischen vier Mädchen und etwa sechzig Angestellten der „Jadrolinja“, der die „Adriana“ gehörte. Diese vier Mädchen, die man in der Bundesrepublik in einem Heim für verhaltensgestörte Jugendliche oder in einer Abteilung für Drogenabhängige wiedergefunden hätte, managten seit einiger Zeit im Rahmen der Kooperative „Posto delle fragole“ das kleine Hotel „Tritone“ am Lido von Triest, immerhin ein Hotel der 2. Kategorie. Nun mußten sie abrupt von der Verwaltung eines Dreißig-Zimmer-Hotels auf ein 600-Betten -Schiff umsteigen. Ergebnis: keine Klagen von den Gästen, aber eine totale Verunsicherung des Kreuzfahrtservices der sechzig Angestellten, die an Routine und Hierarchie gewöhnt waren. Entinstitutionalisierung auf der „Adriana“, oder: ein kleines Beispiel für eine Praxis, die in der Lage ist, Fähigkeiten von Menschen zu entfalten, weil sie Fähigkeiten voraussetzt.

Zwei Monate vor Beginn dieses Kongresses gab es für die Psichiatria democratica einen Schock: Agostino Pirella, Protagonist der antiinstitutionellen Bewegung, prominentester Mitkämpfer von Basaglia wurde aus dem Amt gejagt. Mit einem brüsken Brief entließ ihn der Sozialist Eugenio Maccari, Gesundheitsminister von Piemont, als Verantwortlicher für die psychiatrischen Dienste der Region.

Anlaß war der öffentliche Aufruhr um einen Vater, der keine Ansprechpartner fand und in seiner Hilflosigkeit seine psychotische Tochter mit einer zwei Meter langen Kette auf einem Tisch festband und anschließend das psychiatrische Zentrum, centro di salute mentale, bedrohte. Erneut entflammte die Debatte um Sinn und Unsinn des berühmten Gesetzes 180, das die Auflösung der Irrenhäuser vorsieht. Der Kongreß in Triest hatte, so schien es, seine politische Aktualität.

Tatsächlich gab es Proteste von Triesterinnen, im Namen eines Angehörigenverbandes. Etwa zwanzig Frauen, per bene, hielten Schilder hoch: Di 180 si muore (Das Gesetz 180 tötet). Die meisten Vertreterinnen der Angehörigenvereinigungen nahmen den Protest jedoch nicht sonderlich ernst, sahen darin eher eine Aktion der reaktionären „Lista per Trieste“. Zum Beispiel gab es da eine Frau Cerni, deren Sohn Bruno 1979 für eine Woche zwangseingewiesen wurde. Allerdings: Nach einem halben Jahr beteiligte er sich an einem Wettbewerb um neuausgeschriebene Pflegerstellen und gewann ihn. Seitdem ist er Pfleger in derselben Psychiatrie, die ihn einst einwies. Auch das eine Frucht des Gesetzes 180.

Aber die Angehörigen von psychisch Kranken protestierten nicht nur vor dem Kongreß, sondern auch in ihm. Vertreterinnen von 25 associazioni familigliari (Angehörigenverbände), die es inzwischen auch in den Städten des Südens gibt, in Bari und Cagliari beispielsweise, nahmen am Kongreß teil. In einem Flugblatt distanzierten sie sich von der Denunziation des Gesetzes, verlangten vielmehr, daß „das Gesetz 180 in seiner ganzen Totalität durchgeführt wird, so, wie es in der gastgebenden Stadt Triest geschieht“. Franca Basaglia, Witwe Basaglias und als Senatorin für die unabhängige Linke in Rom tätig, eröffnete den Kongreß mit einer Botschaft, die neue politische Auseinandersetzungen ankündigte: Ein Gesetzesvorschlag zur Durchführung des Gesetzes 180 sei jetzt auf den parlamentarischen Weg gebracht.

Dennoch: das Gesetz 180 war nicht Thema des Kongresses. Eine Organisatorin, Giovanna Gallio: „Wir wollten nicht mehr das Für und Wider des Gesetzes 180 zur Debatte stellen. Diese Debatte gehört der Geschichte an.“ Oder der Direktor der Triester Psychiatrie, Franco Rotelli: „Das Gesetz 180, das ist die negierte Institution; jetzt kommt es darauf an, Institutionen zu erfinden.“ Mit anderen Worten: daß der Gesetzgeber, die Regionalregierungen und die Provinzialverwaltungen immer noch nicht in der Lage sind, nach zehn Jahren Programme zu entwickeln, um endlich die gesetzlich vorgesehenen Zustände herbeizuführen, ist Thema der Misere des italienischen Staates, des Immobilismus der Strukturen des sottogoverno, der Unfähigkeit der Parteien. Das Gesetz sieht ein Netz territorialer Dienste vor, erklärt die alten psychiatrischen Strukturen der Internierung, vor allem also die Irrenhäuser, für illegal. Seit eben diesen zehn Jahren duldet das politische System die Illegalität eines nicht unwichtigen Teils des Staates.

Der Kongreß verzichtete jedoch auf das Lamento, sondern setzte bei der Praxis an, die den gesetzliche Zustand erreicht hat. Er ging von Orten aus wie Pordenone, Arezzo, Venedig und eben vor allem Triest. Die Frage war: Was ist das für eine Psychiatrie, die ohne Irrenhäuser auskommt, die eine sichere psychiatrische Versorgung rund um die Uhr durch die territorialen Dienste garantieren kann? An welchen Fronten bewegt sie sich, mit welcher sozialen Realität muß sie sich auseinandersetzen, was ist ihre Politik? La questione psichiatrica also, die psychiatrische Frage, von der Rotelli gleich sagte, sie sei „viel zu wichtig, als daß sie von Psychiatern beantwortet werden darf“. Die Psychiatrische Frage

Ist hierzulande ein Psychiatriekongreß denkbar, in dem das Verhältnis von „Hölderlin, Walser und Saba“, oder das von „Joyce und Svevo“ erörtert wird, in dem ein Atomphysiker sich mit dem Prinzipien der Physik auseinandersetzt? Nun, Literaturforscher, Schriftsteller, Soziologen, Philosophen und Psychiater fanden sich beispielsweise in einer Sektion vereint, in der es um „Abweichung und Sprachmischung“ ging.

Ausgangspunkt für dieses Thema ist die konkrete Erfahrung dieser anderen Psychiatrie: der Irre, der sein Recht auf Öffentlichkeit zurückerobert, schneidet in die herrschende Kultur ein. Wie antwortet diese Kultur auf den pensiero debole, auf das Denken der Ohnmächtigen, auf die Sprache des Schweigens der ehemals Ausgeschlossenen. Wo nimmt die Poesie diese Sprache auf? Der Atomphysiker Budinich klagte in der Sektion der Wissenschaftskritik die humanistische Tradition der Häresie ein, die der Induktion, der Beweisführung auf Grund praktischer Erfahrungen entspringt. In dem Versuch der „Basaglianer“, die Psychiatrie als Wissenschaft zu zerstören, die Rolle des Spezialisten aufzuheben, erkannte er die häretische Tradition wieder.

Natürlich gab es auch „engere“ psychiatrische Fragestellungen: Austausch von Erfahrungen der „Entinstitutionalisierung“ zwischen Argentiniern, Engländern, Franzosen, Griechen, Spaniern. Die Angehörigenverbände, die die Rolle der Ankläger längst verlassen haben, berichteten, mit welchen Allianzen vor Ort sich erfolgreich Druck ausüben läßt, gegen die Faulheit der Verwaltungen und gegen die tödliche Routine der Psychiater. Aber von größerem Interesse war vielleicht jene Sektion, die die größte Zumutung an Fachjargon repräsentierte. Die Sektion der Zivilrechtler.

Schon vor zwei Jahren hatte es in der juristischen Fachwelt eine Wende gegeben: Die Juristen, auch in Italien eher konservativ, erkannten, daß das Gesetz 180 als Realität akzeptiert werden muß. Damit aber ist die Rechtssystematik selbst widersprüchlich geworden. Die Zwangseinweisung, die äußerste Form von Gewalt, wird im Gesetz 180 so definiert, daß der Betroffene seine bürgerlichen Rechte behält. Dies widerspricht dem Zivilrecht, das Entmündigung, Vormundschaft, Geschäftsunfähigkeit bei Wahnsinnigen, Debilen, etc. vorsieht. Auf dem diesjährigen Kongreß wurde nun ein Gesetzesvorschlag erörtert, der systematisch alle Definitionen von Ausgeschlossenen und die Prozeduren der Ausschließung von bürgerlichen Rechten aus dem Zivilrecht entfernt. Ersetzt werden sollen sie durch eine Generalformel, die auch die körperlich Behinderten bzw. die Alten umfaßt: durch den Begriff Ammistrazione di sostegno, was etwa die Bedeutung von Unterstützung der Hilfsbedürftigen hätte. Angelus Novus, oder: die

sozialen Unternehmungen

Einem Thema konnte man aber von Anfang an nicht entgehen, das heißt, längst bevor es in den letzten beiden Tagen zur Debatte gestellt wurde: die Kooperativen, oder wie sie in Triest genannt wurden - die sozialen Unternehmungen. Sekretariat, Information, Ausflugsorganisation, Videoclips aus dem Psychiatriealltag: die Kongreßorganisation war in den Händen der Kooperativen. Sie konkurrieren mit ihren Produkten auf den freien Markt, seien es Dienstleistungen, seien Waren; die Mitarbeiter sind Mitglieder und als solche haben sie ihren Arbeitsplatz garantiert, auch wenn sie als Behinderte nicht die volle Arbeitsleistung erbringen. In den letzten Jahren hat es in Triest eine fast brüske Akzentverschiebung hin zu den Kooperativen gegeben. Öffentliche Gelder und die fähigsten Mitarbeiter werden von ihnen aufgesaugt. Rotelli spitzt die Linie zu: „Wir brauchen keine psychiatrischen Ambulatorien, wir brauchen Werkstätten, in denen die Menschen, die zum ausgeschlossenen Drittel gehören, ihre tatsächlichen Fähigkeiten erfahren, in denen sie sich als Arbeitende anerkennen und den Zutritt zu den bürgerlichen Rechten verschaffen, die sonst nur die restlichen zwei Drittel der Gesellschaft genießen.“

In der Tat ist die Entwicklung in den letzten Jahren erstaunlich, selbst wenn man nur die Kooperativen aufzählt: ein Übersetzerdienst und Sprachschule, ein Hotel, ein Verwaltungsdienst, eine Modeschneiderei, ein Restaurant, eine Bar, ein Radio, ein Fotostudio, ein Friseursalon, eine Zeitung, ein Segelschiff, das Kreuzfahrten anbietet, eine Landwirtschaftskooperative, Musik-, Malerei- und Theaterstudios, eine Computerschule, Reinigungs-, Gartengestaltungs-, Renovierungs- und Transportdienste, ein Studio für Modeaccessoirs, ein Schmuckladen. Im übrigen haben die Triester ein Strandgelände in San Domingo gekauft und hoffen, in den nächsten Jahren regelmäßig etwa 40 Jugendliche zum Ausbau einer Ferienresidenz hinschicken zu können. Größenwahn zählt nicht. 125 Menschen, die aus dem psychiatrischen Kreislauf kommen oder dabei waren, in ihnen hineinzugeraten, arbeiten in diesen Kooperativen. Triumphalismus? Nun, die Zentren, centri di salute mentale, die bislang die Avantgarde im Zerstörungsprozeß der Irrenhauskultur waren, sehen sich ins Abseits, in die Routine der „psychiatrischen Versorgung“ geschoben.

Pfleger klagen über Resignation, Stagnation und das wachsende Gefühl der Rückkehr des psychiatrischen Klimas abgeschlossener Räume. „Ich bin untergetaucht in der alltäglichen Arbeit und sehe keine Ziele mehr“, sagt eine Pflegerin - an der Bar des Kongresses, nicht auf dem Kongreß. Die Kooperativen hingegen, einmal als Unternehmer auf den freien Markt, vernachlässigen die Kommunikation mit den Zentren.

Aber dieser Widerspruch wird gewollt. Nur dadurch wiederum kann die trennende, sich abschließende Tendenz, die auch in den neuen Formen einer alternativen Psychiatrie droht, gebrochen werden. Auch das sieht jene Pflegerin: „Uns nützt die Provokation der Kooperativen - auf Dauer. Im Augenblick aber produzieren sie Unbehagen.“

Zwei Kooperativen wurden während des Kongresses eingeweiht. Beides sind Beispiele dafür, daß es bei den sozialen Unternehmungen nicht darum geht, Verrückten eine Nische am Rande des Marktes zu verschaffen. In der Schreiner -Kooperative „Hill“ (auf dem hügeligen Gelände der alten Klinik) arbeiten ehemalige Drogenabhängige und Psychotiker. Sie haben einen Spitzendesigner eingestellt, der mit ihnen Möbelmodelle entwirft. Die Produktionslizenz wird je nach Angebot vergeben. Die Preislage: keines der Einzelstücke unter 2.500 Mark. Das heißt: Dieser Ansatz hat nichts zu tun etwa mit sozialtherapeutischen Behindertenprojekten, die grobe Hochbetten für die alternative Kundschaft zimmern. Eröffnet wurde auch eine Schmuckboutique direkt über dem Römischen Theater: Fußboden und Wände ausgelegt mit Edel und künstlich gerosteten Stahl. Über dem Eingang ein riesiger silberner Flügel. Der Name der Boutique? Angelus novus. Genannt wurde sie nach der Denkfigur in den „Geschichtsphilosophischen Thesen“ von Walter Benjamin. Sozialisierung der

Reproduktion der Arbeitskraft

Der Begriff der „sozialen Unternehmung“ für die Kooperativen ist nicht einfach ein marktgängiger Titel. Es verbirgt sich dahinter ein überaus emphatisches Konzept, das weit über das Ziel der Integration von Behinderten auf den Arbeitsmarkt hinaus geht. Die „sozialen Unternehmungen“ wurden vorgestellt als die historische Antwort auf die Krise des Sozialstaates, als der Versuch, zwischen staatlicher Unterstützung und freiem Markt einen dritten Sektor zu öffnen. Da der Sozialstaat bei immer knapper werdenden öffentlichen Mitteln sich mehr und mehr darauf beschränkt, nur noch den Kreislauf des Elends durch die staatlichen Institutionen zu alimentieren, und da der Arbeitsmarkt immer mehr Leute auf Dauer ausscheidet und das ausgeschlossene Drittel verewigt, gerät auch eine Psychiatrie, die darum kämpft, die Dynamiken der Ausschließung zu brechen, in diesen Prozeß.

Die sozialen Unternehmungen sollen, so die Präsidentin der Kooperative „Posto delle fragole“, Renate Goergen, „nicht nur das Wohlergehen der Leute ermöglichen, sondern auch ihre Ressourcen und Fähigkeiten freisetzen. Es sollen Unternehmungen sein, in denen die Reproduktion der Arbeitskraft selbst sozialisiert wird. Mithin stellen sie eine Herausforderung sowohl gegenüber der Theorie und Praxis des Wohlfahrtstaates als auch gegenüber dem Keynsianismus dar. Diese Unternehmungen der sozialen Reproduktion investieren in die Rückgewinnung eines gesellschaftlichen Potentials, das die Gesellschaft nur in zerstörter Gestalt wahrnimmt: als verhaltensgestörte Jugendliche, als neue Armut, als Asozialität, als das ausgeschlossene Drittel.“

An diesem Punkt begann ein Streit um einen Begriff, der mehr als ein Begriffsstreit war: Renate Goergen wandte sich den Drogenabhängigen zu, die alle zivilen Regeln, allen gesellschaftlichen Zusammenhang aufgeben und von psychiatrischen Diensten nur noch darin bestärkt werden. Sie sprach dabei von defezione, ein abschätziger Begriff, der zwischen Abfall und Abtrünnigkeit liegt. Diesen Prozeß der defezione gelte es zu durchbrechen. Hier protestierte Franco Rotelli: „Ein solches Konzept lehne ich ab, es ist totalitär. Es geht nicht darum, die Asozialität zu vertreiben, auch nicht nurch die besten psychiatrischen Dienste, durch die grandiosesten sozialen Unternehmungen. Die Asozialität ist die Chance der Menschen, ihre Freiheit, wenn es keine andere Freiheit gibt, die Hoffnung, wenn es keine andere Hoffnung gibt. Solange es keine Revolution gibt, muß es wenigstens die Asozialität geben.“

Mit dieser Argumentation nahm er die Thesen seiner Eröffnungsrede wieder auf: „Der antiinstitutionelle Kampf, den wir vor zwanzig Jahren begonnen haben, war ein Kampf um Demokratisierung, war ein Exzeß an Demokratie. Und dieser Exzeß an Demokratie gilt es erneut anzuzielen, denn ohne diesen Exzeß wird es keine Demokratie geben, wird die Demokratie sterben.“