RUSSIAN FASHION

■ Gespräch mit dem Moskauer Soziologen Jusif Backstein

Morgen wird im Bahnhof Westend „NCKUNSTBO“ eröffnet. Vier Wochen lang bereiteten acht Moskauer und sieben Berliner Künstler in einer gemeinsamen Arbeitsphase diese Ausstellung vor. Das Künstlerprojekt wurde ohne Beteiligung von sowjetischen Kulturinstituten oder Ministerien realisiert. Über Skepsis und Hoffnungen der Moskauer Künstler angesichts der „Russian Fashion“ im Westen sprach Angelika Stepken mit dem Moskauer Soziologen Jusif Backstein, der eng mit den ehemals „inoffiziellen“ Künstlern befreundet ist.

Backstein: Ich arbeite seit 1974 an einem Institut, das das soziale Leben in den Städten untersuchen soll. Meine Aufgabe ist es, den Sinn der kulturellen Prozesse zu verstehen, etwa das Funktionieren offizieller kultureller Einrichtungen wie Museen, Büchereien, Clubs, Ausstellungshäuser.

taz: Hattest Du vor Perestrojka dasselbe Arbeitsgebiet?

Offiziell arbeitete ich auch Soziologe. Aber die Rolle, die die Soziologie damals spielte, war weniger wichtig. Jetzt aber fallen zwei kulturelle Ebenen zusammen, das Funktionieren der offiziellen Kultur und das der neuen informellen Organisationen. Da gibt es neue Kontaktfelder, und ich untersuche beispielsweise die Beziehungen zwischen Ausstellungshäusern und einer Organisation wie unserem „Club der Avantgardisten“.

Was verstehst Du unter „informeller Organisation“?

Das ist einer unserer speziellen Begriffe. Früher gab es in der Sowjetunion zwei Arten von Kultur: die offizielle und die inoffizielle. Der Staat war einziger Förderer von kulturellen Aktionen. Offizielle Kunst heißt also: staatliche Unterstützung. All unsere Aktionen waren dagegen underground, inoffiziell. Wir machten Ausstellungen in Privatwohnungen, „Apt. Art“. Jetzt haben wir eine neue Situation, sowohl unter sozialen wie auch politischen und ideologischen Aspekten. Der Staat hat heute keine direkte Beziehung zur Kunstsphäre. Er ist nur an harter Währung interessiert. Und nach der Sotheby's-Auktion im Sommer in Moskau haben unsere Offiziellen verstanden, daß Kunst eine Quelle harter Währung sein kann. Das Wichtigste an diesem Prozeß ist die De-Ideologisierung unserer Gesellschaft. „Informell“ ist ein neuer Begriff. „Informell“ heißt: nicht vom Staat organisiert.

Welchen Stellenwert hat in dieser Situation die „offizielle“ Kunst? Hockt sie auf einem absterbenden Ast?

Das kann man so nicht sagen. Bis heute haben diese Künstler ja die Unterstützung des Staates, reale Ausstellungen, reales Geld. Das Kulturministerium, der Kulturfonds, der Künstlerverband kaufen ihre Werke an. Die Künstler, die zur inoffiziellen Bewegung gehören, müssen zwei verschiedene Leben führen: als Buch-Designer, beispielsweise, zum Geldverdienen, und als Künstler.

Du sprachst vorhin von dem Prozeß der De-Ideologisierung in der Sowjetunion. Heißt das, daß der Staat die neue Rolle der Kunst noch nicht begriffen hat?

Das ist ein komplexes Problem, denn all unsere offiziellen Kultur-Institutionen existieren ja noch ganz real und funktionieren. Aber vielleicht hat sich ihre Rolle im kulturellen Leben geändert. Für uns, d.h. für die Künstler, hat sich die Situation eigentlich erst vor ein paar Monaten verändert, besonders seit jener Sotheby's-Auktion. Sotheby's brachte uns eine andere Seite der Kunstszene bei, den kommerziellen Aspekt. Und der ist jetzt realistischer als der ideologische, der in früheren Zeiten regierte.

Sven Gundlach, einer der hier ausstellenden Künstler, stellte im Gespräch die westliche „formalistische“ Kunst der sowjetischen „ideologischen“ gegenüber und schlug sich selbst auf die Seite der „Ideen“...

Ja, das trifft auf seine künstlerische Arbeit auch zu. Vielleicht ist das auch ein Bestandteil nicht der sowjetischen, aber der russischen Kunsttradition. Wenn ich meine Freunde richtig verstehe, erscheinen ihnen die meisten Werke, die sie jetzt in Berliner Ausstellungen sehen, formalistisch. Sie sehen allenfalls Beziehungen zwischen Formen, aber keine Ideen. Für sie sind Künstler wie Anselm Kiefer, Beuys oder Warhol mit sehr eigenständigen Ideen und ästhetischen Positionen interessanter.

Deine Freunde sprechen skeptisch von der „Russian fashion“ im Westen, und fürchten wohl, daß sie dabei mit ihrer Kunst nicht ganz ernst genommen werden.

Das stimmt. Das Hauptproblem für neue künstlerische Bewegungen in neuen Ländern - und Rußland ist für den Kunstmarkt ja Neuland - ist, daß die meisten westlichen Händler, Sammler und Galeristen den Sinn dieser Kunst nicht verstehen. Der Grund für dieses Un- und Mißverständnis liegt zum Teil in dem Defizit freier Kunstzeitschriften in unserem Land. Für mich und meine Kollegen ist es jetzt die wichtigste Aufgabe, solch eine freie sowjetische Kunstzeitschrift zu gründen. Das ist eine Voraussetzung, um unsere neue Kunstbewegung verständlich zu machen.

Das heißt, es gibt noch keine öffentliche Diskussion über die Kunst in der gegenwärtigen Situation?

Der Unterschied unserer Kunstszene zur westlichen ist doch das Fehlen einer kulturellen Infrastruktur wie Galerien, Magazine, Kunsthändler, eines Marktes... Bis jetzt haben meine Freunde ihre Werke nur an westliche Händler und Sammler verkaufen können. Unsere sowjetischen Leute kaufen nur alte russische Kunst. Erst nach der Sotheby's-Auktion haben die ersten Leute mit Geld erkannt, daß Kunst eine wirkliche Ware auf dem Markt ist.

Trotz allen Unverständnisses gegenüber der neuen russischen Kunst ist sie dennoch eine „internationale Kunst“?

Ja. Der große Unterschied zwischen der offiziellen und der inoffiziellen Kunst war ja, besonders in den siebziger Jahren, ihre Beziehung zur weltweiten Kunstentwicklung. Die inoffizielle Kunst war international orientiert. Die meisten meiner Kollegen lesen die Kunstzeitschriften wie 'Artforum‘, 'Art in America‘, 'Flash-Art‘ oder 'Kunstforum‘.

Sind diese Magazine in Büchereien zu beziehen?

Ich lese sie zu Hause, weil ich sie von Freunden bekommne. Aber ich glaube, die wichtigsten gibt es auch in den Bibliotheken. Für offizielle Künstler sind sie jedoch nicht besonders interessant.

Einige der hier anwesenden „inoffiziellen“ Künstler sind Mitglieder im offiziellen Kunstverband.

Ja, Irina Nachova zum Beispiel, aber nicht als Künstlerin, sondern als Buch-Designerin. Oder Dimitrij Prigov als Bildhauer. Ich habe noch nie von Prigov eine Skulptur gesehen. Er ist in Moskau ein berühmter Dichter und Graphiker.

Was erwarten, erhoffen die Künstler von Perestrojka?

Tatsache ist, daß wir jetzt alle in Berlin sind. Das ist für die Künstler enorm wichtig, daß sie reisen können, Stipendien im Ausland bekommen, wie jetzt Kabakov vom DAAD. Wir diskutieren oft über den sozialen Prozeß in unserem Land, aber der ist nicht besonders klar für uns. Manche von uns glauben an Perestrojka, andere nicht. Aber „glauben“ ist eine Sache von Ideen. Im wirklichen Leben sind wir hier. Ich sage oft zu meinen Opponenten: Perestrojka ist ein abstraktes Problem. Aber real ist die Veränderung, daß wir in Paris, New York oder Berlin sein können. Die zweite wirkliche Veränderung ist das reale Geld. Die Künstler können jetzt ihre Werke verkaufen.

Was passiert mit dem Geld, wenn ihr im Ausland Bilder verkauft?

Nach unseren offiziellen Gesetzen dürfen wir die westliche Währung nicht in die Sowjetunion hineinbringen. Wir können das Geld auf eine Bank bringen und nur im Ausland nutzen.

In den vergangenen beiden Jahren haben sich wohl die westlichen Galeristen und Kunsthändler in Moskau die Klinken gereicht. Wie reagieren die Künstler auf diese Handlungsreisenden?

Ja, das ist wie in Afrika... Aber es ist keine ästhetische Bewegung, sondern eine ethnographische. Die meisten meiner Freunde befürchten auch, daß dieses Interesse nur ein politisches oder kommerzielles ist. Doch ich hoffe, daß Rußland ein westeuropäisches Land ist und seine Kunst hier eher verstanden wird als zum Beispiel die chinesische oder japanische.

Wie weit nutzen die Künstler jetzt die Möglichkeit, im eigenen Land auszustellen?

Diese Ausstellungen sind nur der erste Schritt in einem sehr langen Prozeß. Ein wirklicher Kontakt zwischen der russischen und der westlichen Kunst wird vielleicht in zehn Jahren passieren können.

Wieviele Künstler leben in Moskau?

Offizielle?

Nein, überhaupt.

Der offizielle Künstlerverband hat 22.000 Mitglieder. Davon leben vielleicht 4- bis 5.000 in Moskau. Aber der Kreis, der für den Westen interessant und interessiert ist, beschränkt sich auf 40, 50 Leute.

Sind die in eurem „Club der Avantgardisten“ versammelt?

Nein, nicht alle. Den Club haben wir im März 1987 gegründet, als Perestrojka begann, um eine erste Ausstellung zu organisieren. Er ist keine kommerzielle Vereinigung. Uns verbinden ähnliche ästhetische Positionen. Wir haben aber auch viele Probleme. Dennfrüher, in den siebziger Jahren, war die Lebenssituation, die kreative Situation der Künstler viel einfacher. Da mußten sie sich noch nicht um Verkäufe, westliche Sammler, Geld usw. kümmern. Ihr einziges Problem war die Kunst. Die psychologische Situation ist härter geworden. Wir verstehen die neuen Probleme noch nicht. Besonders hart ist es für die Generation der 50- bis 60jährigen Künstler. Die wissen nicht, was sie tun sollen. An der Sotheby's-Auktion nahmen fast ausschließlich junge, 30- bis 35jährige Künstler teil. Nur Kabakov und Chuykov sind über die 50. Von den offiziellen Künstlern war nur Tabenkin auf der Auktion, ein interessanter Künstler, der jedoch nicht in Mode ist.

Wie werden eure Ausstellungen besucht?

Das ist ein soziales, kein ästhetisches Problem. Zur ersten Ausstellung, im Frühjahr '87, kamen sehr, sehr viele Leute, vor allem junge. Jetzt im Sommer bei unserer zweiten Präsentation kamen nicht so viele. Vielleicht lag es an der Jahreszeit...

Haben die Zeitungen darüber berichtet?

Ja, aber ein bißchen spät. Es war eine interessante Ausstellung, aber sie stand im Kontrast zum „mainstream“.

Was ist heute der russische „mainstream“?

In den siebziger Jahren war der Stil der inoffiziellen Kunst unsere Variante der Konzept Art. In den frühen Achtzigern entstanden dann - wie in West-Europa - eher expressive Arbeiten. Das, was heute interessant ist, ist die post-konzeptuelle Kunst, die Post-Soz-Art - analog der amerikanischen oder europäischen Postmoderne. Die meisten Künstler dieser Ausstellung hier arbeiten in diese Richtung. Wenn du die Arbeiten von Ovtschinnikov, Gundlach oder Volkov siehst, verstehst du, was ich meine.

Du sprichst von Analogien zwischen der jüngsten Kunstentwicklung im Westen und im Osten. Aber eine postmoderne Kunst geht doch aus einer postmodernen Gesellschaft hervor...

Ja, natürlich. Ich spreche deshalb auch von den Moskauer Post-Konzeptualisten. Tatsache ist doch, daß wir - bis auf die letzten drei Jahre - in einer totalitären Gesellschaft gelebt haben. Und das war wirklich ein schreckliches Leben, schrecklich im alltäglichen Leben.

Was war Deine Funktion als Soziologe in einem solchen System?

An meinem offiziellen Arbeitsplatz? In der UdSSR gab es bis 1968 gar keine soziologische Wissenschaft. Denn vom offiziellen Standpunkt aus hatten wir ja unsere marxistische Philosophie und den historischen Materialismus als eine Art marxistischer Soziologie. Soziologie ist eine positivistische Wissenschaft. Die Aufgabe der Soziologen ist es, das wirkliche Leben zu untersuchen.Aber da unsere Offiziellen unsere Bedürfnisse ja besser kannten als wir selbst - was sollten da die Soziologen noch tun. Erst im Zuge der Modernisierung der sowjetischen Gesellschaft erkannte man die Rolle der Wissenschaften und Technologien. Das war dann auch der Grund, warum 1968 plötzlich die Soziologie als Wissenschaft auftauchte, allerdings ohne besonders klare Aufgaben. Doch die Blüte der Soziologie in der Sowjetunion dauerte gerade mal vier, fünf Jahre, bis 1972. Dann wurde das Institut umstrukturiert, neue Leute mit strengerer Partei-Ideologie kamen, die nicht am wirklichen Leben interessiert waren. Das Schicksal der Soziologie nach 1972 war elend bis zur Perestrojka.

Was heißt das? Hattest Du nur mit Partei-Statistiken zu tun?

Ja, an die meisten Stastitiken kommen wir erst seit ein paar Monaten heran. Solche über Kriminalität, Drogen etc. waren bis vor kurzem top secret. In meinem Institut versuchen wir jetzt, wirkliche Untersuchungen in ehr engem Rahmen an konkreten Problemen anzustellen, Die sozialen Outsider finden öffentliche Aufmerksamkeit, die Kinder und die Alten, die Prostituierten und Gefangenen, die Invaliden und die Obdachlosen. Man liest in unseren Zeitungen immer von den 30.000 Obdachlosen in New York. In der Sowjetunion gibt es eine Million Obdachlose. Nur dürfen sie nicht in den großen Städten leben, sondern nur im Norden und im fernen Osten des Landes.

Noch einmal zu Perestrojka und der Kunst... Die Kunst wird frei und bringt Geld. Und beides beobachtet der Staat ganz „unideologisch“?

Es scheint mir, daß es bei den Offiziellen kein wirkliches Interesse an der Kunst gibt, und das ist gut so. Wenn 1962 Chruschtschov von einer Ausstellung moderner Kunst empört war, hatte das Folgen und brachte auf Jahre hinaus Probleme für die Künstler. Denn die Sowjetunion war das totalitärste Land, das es in der Geschichte gab, noch schlimmer als der Faschismus, denn unter Hitler gab es wenigstens noch eine Privatwirtschaft. Aber in der Sowjetunion war alles private Leben zusammengebrochen, und es gab nur noch Staat.

Und jetzt führen die Künstler ein „Privatleben“?

Privat ist es nicht. Es ist ein soziales Leben, aber frei vom Staat. Wir wollen keine Unterstützung vom Staat, vom Kulturministerium usw. Denn die Funktionäre des Ministeriums diktieren die Kultur, sie konnten Ausstellungen öffnen und schließen.

Findet die neue Situation in der Sowjetunion ihren (neuen) Ausdruck in der Kunst?

Das ist ein komplexes Problem. Ich weiß es nicht so recht. Im Moment denken alle mehr an die sozialen Probleme als an ästhetische. All die neuen Möglichkeiten, das neue Interesse im Westen, das neue Geld... Es sind so viele Kunsthändler in Moskau, daß die Künstler kaum noch Zeit zum Arbeiten finden. Meine Hauptaufgabe ist es jetzt, wie gesagt, eine freie Kunstzeitschrift zu organisieren.

Wie soll die finanziert werden?

Das ist jetzt das Problem. Ich fände es gut, wenn ein solches Magazin zweisprachig erscheinen würde. 'Flash-Art‘ macht ja auch schon eine russische Ausgabe. Wir haben zeimlich gute Prototypen: die Zeitschrift 'AR‘, die in sieben Nummern erschien und die russische nichtoffizielle Kunst vorstellte. Das ganze Material wurde in Moskau vorbereitet und dann in Paris gedruckt.

Aber ein neues Magazin wäre nicht nur auf die russische Kunst beschränkt?

Wir wollen über russische Kunst informieren, aber auch über weltweite Prozesse in der Kunstszene, über wichtige Ausstellungen usw. Denn in Moskau verstehen wir die ganze Situation noch nicht, zum Beispiel das Verhältnis von Qualität und Preis. Dieses „art-business“ ist wirklich ein ziemlich komplexes Problem...

Das Gespräch führte

Angelika Stepken