Ein trauriges Kapitel

■ Stendhal über Rossini - deutsch

Henri Beyle war bekanntlich ein rechter Hans Dampf. Sein erstes Buch (über Haydn und Mozart) ist ein freches Plagiat, für das dritte tarnte er sich aus guten politischen Gründen als deutscher Kavallerieoffizier - als 'Herr von Stendhal‘. Die Tarnung platzte, den Namen behielt er bei. Sein viertes Werk handelt nur von Liebe. Und über das fünfte sagte er gleich im Vorwort: „Le present livre n'est donc pas un livre.“

In der Tat ist Stendhals Vie de Rossini, publiziert in Paris und London 1824, kein Buch. Dabei wiegt es zwei Bände schwer, ist nicht plagiiert und jedes Wort wohlerwogen inklusive Werkverzeichnis und kritischer Reflexion der eigenen biographischen Methode. Stendhals Rossini machte bei Erscheinen Furore, weil der Opernfabrikant Gioacchino Rossini, dreißig Jahre jung, soeben seinen Triumphzug auf den Opernbühnen Europas angetreten hatte und Tagesgespräch war in allen Salons. Vie de Rossini begründete zugleich den Schriftstellerruhm Stendhals. Und die Schrift wird bis heute zu den „wichtigsten Inkunabeln“ der Rossiniforschung gerechnet: selbst neuere Standardwerke wie Weinstocks große Biographie berufen sich im Guten wie im Bösen nach wie vor auf Monsieur Beyle.

Trotz alledem ist es kein Buch. Es ist eine absonderliche Liebeserklärung - parteilich und persönlich, in jenem gespannten, hohen Ton geschrieben, der sich in schlaflosen Nächten einstellt, wenn unversehens Wahrheiten ins offene Fenster hereinflattern, die zu notieren keinen Aufschub dulden. Ein Stil wie Samt und Seide, nur immer wieder gegen den Strich gebürstet: Stendhal sprüht Bonmots, Aper?us und paradoxe Sätze, er wiederholt und widerspricht sich, wird galant, dann gemein und hat es am Ende eben doch nicht so gemeint.

Nur bedingt gilt seine Liebeserklärung Rossini, eher noch Mozart oder Cimarosa - vielleicht hat der Autor sie aber eigentlich an sich selbst adressiert. Er liebte außerdem noch die Musik ganz allgemein und das „Land, wo die Orangen blühen“ (nicht etwa die sauren Zitronen, wie man im kalten Norden zu singen pflegt). Freilich hat ihn all die viele Liebe nicht blind gemacht, sondern scharf- und weitsichtig. Rossini ist für Stendhal ein „Phänomen“, und zwar eines von französischem Zuschnitt (da er seine Landsleute nicht für musikalisch hielt, darf man das nicht als reines Kompliment auffassen). Andererseits spürt er im Phänomen Rossini die generelle „Tendenz des 19.Jahrhunderts“ auf - und entdeckt tatsächlich en detail an dessen Opern Qualitäten, die viel später erst Wagner bzw. Verdi zugeschrieben wurden: die patriotische Sprengkraft etwa oder die verräterische Personencharakteristik in der Instrumentalbegleitung.

Sich selber bezeichnet Stendhal als einen „Rossinisten des Jahrgangs 1815“. Deshalb liebt er den Tancredi und l'Italiana in Algeri von Herzen, den Barbiere nur ein bißchen - und alle Stücke nach der neapolitanischen Wende Rossinis überhaupt nicht. An Elisabetta und La gazza ladra zum Beispiel tadelt er die sogenannte Klarinettenmusik und den Hang zu „deutscher“ Harmonik: bei aller Liebe zu Mozart, da wird es denn doch zu nordisch kalt und stark gewürzt, zuviel „choux sigre“, Sauerkraut und Bier. Und wer trug die Schuld an der Wende? Natürlich eine Frau, Neapels große Primadonna Isabella Colbran; Stendhal schreibt die fiesesten Dinge über sie, Rossini hat sie trotzdem geheiratet.

Gerade die persönlichen, die kulinarischen, politischen, geographischen, physiologischen etc. Abschweifungen vom Thema machen den Reiz dieses Buches aus, das keines sein will. Gerade auf Umwegen tauchen kühne Visionen auf Einsichten, die unverhofft Kontur annehmen und wieder verwischen. Wer will, kann aus Stendhals Rossini eine treffliche Erklärung für den musikalischen Stilwechsel des 18.Jahrhunderts herauslesen, aber auch ein Plädoyer für die Zukunftsmusik oder eine Prophezeiung des Bruitismus. Manche haben Stendhals Schrift als eine Hymne auf Rossini verstanden und andere als ein Pamphlet gegen ihn. Eines jedenfalls steht fest: sie traf das musikalische Europa im Jahre 1824 mitten ins Herz.

Unverzüglich erschien damals in Leipzig eine deutsche Ausgabe, die ganz a la Stendhal schon im Vorwort versichert, sie sei keine Übersetzung, sondern nur eine Adaption. Als Verfasser zeichnete der renommierte Ästhetikprofessor Amadeus Wendt, ein Mozartenthusiast und Beethovenapostel und der pickte sich just die Rosinen aus Stendhals buntem Rossinikuchen heraus, die dem deutschen Klassikverständnis gut zupaß kamen. Gewiß hat Stendhal mittlerweile in Deutschland eine große Fangemeinde, die deutsche Rossini -Rezeption dagegen ist ein trauriges Kapitel für sich.

Seit Wendt ist hierzulande keine neue Übesetzung der Vie de Rossini mehr versucht worden, jetzt endlich bringt ein Frankfurter Verlag die „deutsche Erstausgabe“ auf den Markt: das ist an sich wunderbar, bei Lichte besehen aber auch wieder nur eine Fortschreibung jenes traurigen Kapitels. Die Übersetzung nämlich von Barbara Brumm ist ein Akt der Barbarei: weder hält sie sich an die Ankündigung, „aus dem Französischen“, noch bringt sie den Text, wie zu erwarten wäre, in deutsche Sprache. Das holpert und stolpert, daß es nur so seine Art hat - gewiß, ein Original mit so viel Brio läßt sich nicht ohne Reibungsverluste transferieren und kongeniale Übersetzungen glücken gerade bei Stendhal wohl nur alle Jubeljahre einmal.

Aber es muß ja nicht gleich genial sein. Nur ein bißchen Sorgfalt, das bräuchte es schon, daß nicht Wort für Wort nach Taschenlexikon schmeckt, schlimmer noch, mancher Satz kompletter Unsinn ist, weil die Vokabeln falsch nachgeschlagen wurden. Wenn ihr das zuviel war, dann hat Frau Brumm wohl auch mal ganze Sätze einfach unterschlagen (wie z.B. gleich auf S.10). Der Leser tappt im Trüben. Und egal, ob er Stendhal liebt oder Rossini - weder er noch die haben das nötig.

Elisabeth Eleonore Bauer

Stendhal: Rossini. Aus dem Französischen von Barbara Brumm, Athenäum-Verlag, August 1988. 360 Seiten, 48 DM