Morgenstern-Lukullyrical

■ Hans Kemner und Christian Kaiser mit „Morgenstern am Abend“ im Romantik-Hotel „Fasanerie“ in Zweibrücken: Sechs-Gänge-Menu mit Lyrik als Zwischengang. Verdauen wie Gott in Deutschland

Unter Protest und sporadisch beuge ich mich der Anweisung unserer Eintags-Chefredakteurin, Jutta Kellfrau -Hoppensäckin, heute in allen Artikeln statt der männlichen Form - auch wenn sie sachlich oder grammatikalisch die richtige wäre - die weibliche zu benutzten.

„Bei Presse-Empfängen nehme ich grundsätzlich nichts von den Schnittchen“, sagte kürzlich eine meiner taz -Kolleginnen. „Mit Schnittchen-Essen fängt die Korrumpierbarkeit der Journalistinnen für mich schon an.“ Ihr Wort in meinem Ohr - zu spät: Ich bin, weit weg von Bremen - in Zweibrücken -, mit Prunk und Gloria in ein gesponsertes sechs-Gänge-Menu samt prachtvollem Romantik -Hotel-Einzelzimmer plus Kunstveranstaltung hineingerasselt

-und mein Geldbeutel hat kaaiin Fennig dazubezahlt.

„Morgenstern am Abend“ hieß mein journalistisches Deflorationserlebnis am letzten Donnerstag, und es waren die Bremer

Hans Kemner, Schauspieler, und Christian Kaiser, Gitarrist, die dieses Christian-Morgenstern-„Lyrical“ vor erlesen speisendem Publikum zum Vortrag brachten, um ihre neue Platte vorzustellen. Kemner und Kaiser treten schon seit sechs Jahren gemeinsam auf mit Lyrik und Gitarrenimprovisationen. Ihre neue Platte wird von der kleinen Schweizer Leuberg-Edition herausgebracht, und diese Edition war, mit dem Romantik-Hotel „Fasanerie“ und Kaffee Hag („Goldene Tasse“) an Finanzierung und Gestaltung des Lyrik-Abends beteiligt. Es war nicht der erste dieser Art, und weitere sollen folgen, denn die Idee, „eine Komposition aus Poesie, Musik und Haute Cuisine“ (Helga und Hans Oestreicher, Leuberg-Edition) zu bieten, liegt offenbar voll im Trend des Zusammenwirkens von Kultur und Wirtschaft.

Diese „Komposition aus Poesie, Musik und Haute Cuisine“ findet natürlich in kleinstem

Kreise statt: 50 bis 60 Personen waren es in der „Fasanerie“. Denn wer nicht Gästin der Sponsorinnen ist, bezahlt für Essen mit Kunstgenuß etwa 140 Mark. Ich, wie bereits frisch von der gestopften Gänseleber weg gestanden, gehörte zur eingeladenen Presse und starre nun, zwei Fragen stellend, in den Kaffeesatz: Was hat dieser verschwenderische Luxus meiner Urteilskraft angetan? Und was hat die kulinarische Inszenierung Morgenstern/Kemner/Kaiser

-um es pompös zu formulieren: Was hat sie der poetischen Kunst und ihrer Vermittlung angetan?

Künstlerinnen, Gästeinnen und Gastgeberinnen waren sich ziemlich einig: Der „oftmals sterilen Präsentation von Kunst“ würde im Verein mit der Eßkultur ein begrüßenswertes Ende gesetzt. Und nach dem ersten Glas Champagner wurde auch mir so richtig angenehm wattig ums Gehirn. Nur frohgestimmte Gesichter um mich herum - alle freuten

sich aufs Essen. Ach so: natürlich auch auf den künstlerischen Teil, denn Kemner und Kaiser haben Morgenstern-Gedichte ausgesucht, von denen sich - Essen wie Göttin in Deutschland - die kreative Küchenchefin zu passenden Gängen hatte inspirieren lassen.

Und dann schritten wir beschwingt zu prachtvoll gedeckten, runden Gruppentischen. Ein kleines Podium, kein Mikrofon: „intim“. Kemner und Kaiser huben an. Ein seltsames Paar: Kemner, vor Charme sprühend, mit lustig leuchtende Augen, die in dauernder Bewegung sind. Kemner rezitiert Morgenstern gleichsam aus den Augenwinkeln heraus, aber eben nicht „verschmitzt“, was ganz unpassend wäre, sondern mit distanzierter, achtungsvoller Nähe zum koboldhaften, grotesken, spielerischen Morgenstern. Kaiser dagegen: ziemlich muffelpöttisch. Doch die musikalischen Improvisationen zu Morgenstern, wie die Gi

tarre mit Kemner „spricht“, welche Töne Kaiser für Morgensterns Un-Sinn findet, ist alles andere als muffelig. Aber beim letzten Gedicht vom vegetarischen Hecht, das zum ersten Gang, der „lauwarmen Hechtterrine auf beurre blanc“ überleiten sollte, kollerten in meinem Kopf die Champagner -Perlen nieder und ein sperriger Gedanke hockte sich obenauf: Dies hier ist ein gelungenes Sechs-Gänge-Menu mit Christian Morgenstern zur gefälligen Verdauung.

Der Gedanke duckte sich mit jedem weiteren Gang, mit jedem weiteren Glas Wein und hob immer nur dann sein Haupt, wenn wieder Morgenstern als digestif dazwischenkam. Aber auch das hörte irgendwann mal auf, zumal ja gerade die beteiligten Künstler sehr zufrieden waren. Ist dies also die neue Art, Kunst an den Magen zu verkaufen und ein wohlhabendes, wohlgenährtes Publikum mit Canapees aus Poesie zu atzen?

Sybille Simon-Zülch