Europa 1992: „Abenteuer der Deregulierung“

'FAZ'-Symposion über die Perspektiven des europäischen Binnenmarktes feiert den „freien Markt“ und die „Harmonisierung durch Wettbewerb“ / Experten wollen ökonomische Perspektiven im „Dschungel Europa“ berechenbar machen  ■  Von Reinhard Mohr

Frankfurt (taz) - Bis zum 31.Dezember 1992, so haben die zwölf Staaten der Europäischen Gemeinschaft am 1.Juli 1987 vereinbart, soll der „europäische Binnenmarkt“ verwirklicht sein: keine Grenzkontrollen und Ausfuhrformalitäten, Vereinheitlichung von Steuern und technischen Normen, Freizügigkeit für abhängige Beschäftigte und Selbständige, ein europaweiter Dienstleistungsmarkt und „Liberalisierung“ des Kapitalverkehrs. Am vergangenen Freitag lud der „Geschäftsbereich Informationsdienste“ der 'Frankfurter Allgemeinen Zeitung‘ (FAZ) über 200 Vertreter nicht nur der deutschen Wirtschaft - von AEG bis Degussa, bis Ciba-Geigy bis McDonalds - ins Frankfurter First-Class-Hotel „Interconti“.

Zur Debatte stand, ob „Europa 1992“ eine „Verheißung oder eine Bedrohung“ sei, wie es 'FAZ'-Verlagsgeschäftsführer Pfeifer formulierte. Ziel der hochkarätigen Veranstaltung: ein „klares Bild“ der Lage schaffen und die ökonomische Perspektiven im „Dschungel Europa“ berechenbar machen.

Nach den insgesamt zehn Referaten von Experten war das Bild eines künftigen Europa zwar nicht klar, aber die Berechnungsgrundlagen der wirtschaftlichen Erwartungen (und Befürchtungen) deutlich erkennbar. Die große Hoffnung lautet: Deregulierung & Wachstum: Der größte Markt der westlichen Welt mit 320 Millionen Menschen und 500 Billionen Mark Kaufkraft soll für einen „Wachstumsschub“, neue Arbeitsplätze und einen scharfen Wettbewerb europäischer Unternehmen sorgen, der die ökonomische Position Europas gegenüber der übrigen Welt stärkt.

In fast allen Vorträgen beseelte der unerschütterliche Glaube an die Kraft des „freien Marktes“ die Vision von „Europa 1992“. „Angebotsschock“ nennen Marketing-Experten den erwarteten Effekt eines härteren europäischen Wettbewerbs, in dem - ohne die bisherigen Export -/Importbeschränkungen und andere Reglementierungen - die Stück- und Umsatzzahlen ebenso in die Höhe schnellen könnten wie Produktivität und Gewinne. Dieser Verheißung steht die Befürchtung gegenüber, die „deutsche Wirtschaft“ könne den Wettlauf nach Europa verschlafen.

'FAZ'-Mitherausgeber Jeske hob deshalb hervor, daß nach einer Noelle-Neumann-Umfrage nur zwölf Prozent der Bundesbürger sich über „Europa 92“ gut informiert fühlten, dafür 21 Prozent in Frankreich, 27 Prozent in Spanien und gar 50 Prozent in den Niederlanden. Da Informationsdefizite stets den Pessimismus beförderten, müsse hierzulande verstärkte Aufklärung betrieben werden. Denn auch Teile der Wirtschaft verhielten sich noch zögerlich, statt den Wettbewerb in Europa, wo der „Geist des Kollektivismus weithin zurückgedrängt“ worden ist, als „Entdeckungsprozeß“ zu begreifen. Dabei seien die deutschen Unternehmen für den Standortwettbewerb“ so gut gerüstet wie für den „Wettbewerb des Systems“.

So nannte der Frankfurter IHK-Präsident Messer als Beispiel für „Standortwettbewerb“ in „Europa 92“ den Drang vieler Firmen, sich in Spanien und Portugal anzusiedeln, wo sich die „Arbeitskosten“ auf ein Fünftel derer in der Bundesrepublik beliefen. „Harmonisierung durch Wettbewerb“ war das Zauberwort, möglichst viel „Markt“ und Konkurrenz, möglichst wenig Staat und Dirigismus. „Deregulierung“ heißt da schlicht „freie Zirkulation der Waren“. Die Stärksten setzen die Bedingungen.

Daß Großunternehmen keine Angst vor „Europa 92“ haben, bewies die Rede des Vorstandsmitglieds der Hoechst AG, Dormann, der Europa zum „Heimatmarkt“ seines Konzerns erklärte, von dem aus der Weltmarkt bearbeitet werde. Gleichwohl kritisierte er „Überregulierung, Überbesteuerung und überholte Strukturen“, die den „unternehmerischen Spielraum“ einengten. Europa sei die einzigartige Chance für eine „freie unbürokratisierte Wirtschaftsordnung“.

Einzig der Chef der hessischen Staatskanzlei, Gauland, erinnerte die illustre Versammlung daran, daß es möglicherweise sozialen und regionalen Zündstoff gegen dieses „Europa 1992“ geben könnte, und empfahl ein „behutsames Vorgehen“. Der Bürger Europas sei mehr als nur Verbraucher.

Das aber interessierte die Anwesenden so wenig wie die Fragen des europäischen Umweltrechts. Für sie ist „Europa 92“ ein „Dosenöffner für verkrustete Strukturen“, wie Rednertalent Albrecht Graf Matuschka („Treuhand Vermögensverwaltung“) das europäische Credo der Wirtschaftselite treffend beschrieb.