NRW-AKWs: Sicherheitsmängel bestätigt

Nordrhein-westfälischer Wirtschaftsminister Jochimsen stellt offizielles Gutachten vor / Kernkraftwerke gegen Störfälle und Brände nicht abgesichert / Nachmusterung, aber keine Stillegung  ■  Aus Düsseldorf J. Nitschmann

Bei einer Sicherheitsüberprüfung der nordrhein-westfälischen Kernkraftwerke sind zum Teil erhebliche Mängel im Bereich der Störfall-Vorsorge und der Brandverhütung festgestellt worden.

Der nordrhein-westfälische Wirtschaftsminister Reimut Jochimsen (SPD) erklärte am Montag bei einer Vorstellung des über 8.000 Seiten umfassenden Gutachtens vor der Presse in Düsseldorf, zur Abstellung der aufgedeckten Mängel seien in den einzelnen Reaktoranlagen umfangreiche Nachrüstungen und Umbauten notwendig. Diese sollen in den kommenden Wochen in einem „Risikominderungsplan“ aufgelistet werden. Trotz der zahlreichen Mängel sehe er gegenwärtig jedoch „keinen Grund für eine umstrittene Betriebsstillegung“ in einem der drei Kernkraftwerke an Rhein und Ruhr, sagte Jochimsen. Er sei zuversichtlich, daß die Empfehlungen der Gutachter und Sachverständigen von den Betreibern zügig umgesetzt werden: „Der Raum für förmliche Anordnungen stellt sich gegenwärtig noch nicht“, sagte der Minister. Es bestehe keine akute „Gefahr für Leib und Leben“.

Als „besonders problematisch“ bezeichnete Jochimsen den Schutz des Kernkraftwerkes Würgasssen und der Versuchs- bzw. Forschungsreaktoren in Jülich gegen Flugzeugabstürze. Diese sogenannten „Altanlagen“ seien im Gegensatz zu den neueren Reaktoren nicht verbunkert und gegen Flugzeugabstürze überhaupt nicht ausgelegt. Bei einem solchen Unfall in Würgassen oder Jülich müsse „mit schweren Beschädigungen und erheblichen Auswirkungen für die Umwelt“ gerechnet werden. Da der Gesetzgeber bei den Altanlagen keinen „Vollschutz“ gegen Flugzeugabstürze vorgesehen habe, könne er als atomrechtliche Aufsichtsbehörde hier kaum etwas unternehmen, sagte der Wirtschaftsminister: „Ich halte es politisch aber nicht für erträglich, daß wir mit der möglichen Gefährdung eines Flugzeugabsturzes leben müssen.“ Bei der unterschiedlichen Behandlung der Alt- und Neuanlagen wird nach den Worten Jochimsens „ein Bruch in den sicherheitstechnischen Grundlagen deutlich“. Der Minister sprach von einer „Lebenslüge unserer Gesellschaft“, die Restrisiken bei der Kernenergie, wie etwa den Absturz eines Flugzeuges über einem Atomkraftwerk, „einfach als hypothetische Möglichkeit an den Rand schiebt und verdrängt“.

Jochimsen sagte, bei der Sicherung der nordrhein -westfälischen Kernkraftwerke gegen Flugzeugabstürze gebe es „eine Differenz zwischen der rechtlichen Lage und meinem politischen Wollen“. Er kündigte für die nordrhein -westfälische SPD-Landesregierung eine Gesetzes-Inititative im Bundestag an, „um diese Lücke zu schließen“ und auch die Altanlagen gegen Flugzeugabstürze zu sichern. Zugleich räumte der Minister ein, daß einige Anlagen - wie etwa der 1972 in Betrieb genommene Siedewasserreaktor in Würgassen aufgrund ihrer überalterten Konstruktion gegen Flugzeugabstürze vermutlich gar nicht mehr „vollständig gesichert“ werden könnten. In diesen Fällen müßte bei einer entsprechenden Novellierung des Atomgesetzes auch die Stillegung dieser Anlagen in Kauf genommen werden, erklärte Jochimsen auf Nachfragen. Unabhängig von möglichen Gesetzesänderungen und Nachrüstungen forderte der Düsseldorfer Wirtschaftsminister „ab sofort ein striktes weiträumiges Überflugverbot der Kernkraftwerke für Militärmaschinen“.

Die umfangreichen Nachrüstungen sind nach Auffassung der Gutachter in dem Kernkraftwerk Würgassen notwendig. Der Baustoffkundler der Gesamthochschule Kassel, Professor Ulrich Schneider, kommt nach der Sicherheitsüberprüfung des Siedewasserreaktors zu dem Ergebnis, daß eine „Bekämpfung von Bränden hier praktisch nicht möglich ist“. So empfiehlt der rechte FDP-Mann, der unter Wissenschaftlern und Studenten als eindeutiger Atomkraftbefürworter gilt, eine „komplette brandschutztechnische Neubewertung“ des Kernkraftwerkes in Würgassen, in dem „keine automatischen Löschanlagen vorhanden“ seien. Die Schweizer Gutachterfirma „Elektrowatt Ingenieurunternehmung AG“ (EWI) macht sich diese Auffassung Schneiders in ihrem Abschlußgutachten zu eigen und empfielt, „die aufgezeigten Mängel mit Priorität“ abzustellen. Gleichwohl sehen die Gutachter eine „Gefahr für Leben und Gesundheit der Beschäftigten und der Bevölkerung“ derzeit weder in Würgassen noch in allen übrigen nordrhein -westfälischen Kernkraftanlagen gegeben, wie sie gegenüber dem Düsseldorfer Wirtschaftsministerium wiederholt versicherten.

Ausgesprochen schlecht schneidet der bereits 1962 in Betrieb genommene Forschungsreaktor (FRJ-2) im rheinischen Jülich bei dem Sicherheitsgutachten ab. Insbesondere kritisieren die Gutachter, daß die einzelnen Brandabschnitte „übermäßig groß“ seien und die Reaktorhalle eine so niedrige Feuerwiderstandsdauer aufweise, daß sie „den heute üblichen Anforderungen zu 30 Prozent entspricht“. Darüber hinaus sei die „brandschutztechnische Trennung der Räume bzw. einzelner Abschnitte“ nicht konsequent realisiert. Weiter monieren die Gutachter an dem Jülicher Forschungsreaktor, daß die drei Abschaltstäbe zur Schnellabschaltung nicht unabhängig voneinander funktionierten. „Die nach den Sicherheitskriterien für Kernkraftwerke geforderte zweite, unabhängige Abschalteinrichtung ist somit nicht konsequent verwirklicht“, heißt es in dem Schlußgutachten, das insgesamt 46 Bände umfaßt.

Der Düsseldorfer Wirtschaftsminister Reimut Jochimsen hatte dieses Gutachten vor zwei Jahren insbesondere auf Druck der nordrhein-westfälischen SPD in Auftrag gegeben, um so eine zentrale Forderung der Ausstiegsbefürworter zu erfüllen. Scharfe Kritik zog sich Jochimsen mit der Auswahl der Schweizer Gutachterfirma zu, die selbst den Bau von Kernkraftwerken betreibt und als alles andere als unabhängig gilt. Die Veröffentlichung dieses Gutachtens wurde von dem Düsseldorfer Wirtschaftsministerium ohne Angabe von Gründen insgesamt acht Mal verschoben.

Zu den Ergebnissen der Sicherheitsüberprüfung erklärte gestern Harry Kunz, Mitglied im Landesvorstand der Grünen NRW: „Mängel ja, aber keine Gefahr für Mensch und Umwelt; das Ergebnis der von Wirtschaftsminister Jochimsen bestellten Sicherheitsüberprüfung der Atomanlagen in NRW war vorher absehbar. Insbesondere die Konsequenzen, technische Nachrüstungen, Überflugverbote, sind, wie nicht anders zu erwarten, auf den Pro-Atom-Kurs der Landesregierung zugeschnitten. Mit der gleichen Überprüfung hätte sich auch der Atomreaktor von Tschnerobyl nachrüsten lassen.“