GOTTFRIED B. FISCHER

■ AUF DEM NEBENGLEIS

Traurig, fassungslos stand ich vor dem Ausbruch wilden Terrors, der das Land mit Brutalität überzog. Eine Verhaftungswelle breitete sich aus, und die Gerüchte über fürchterliche Mißhandlungen der Opfer mehrten sich von Tag zu Tag. Überall in meiner nächsten Umgebung verschwanden Menschen in den Kellern der SA-Schergen auf Nimmerwiedersehen. Ich mußte meine Familie und mich selbst in Sicherheit bringen. Im Hause meines Freundes Kurt Heuser in Nikolassee, am Rande Berlins, das er uns zur Verfügung gestellt hatte, fanden wir Zuflucht. Es war ein kleines Haus, aus schweren Baumstämmen gebaut, das meine Frau und meine drei kleinen Töchter zur Not faßte. Die Kleinste war an Mittelohrentzündung erkrankt und machte uns zusätzliche Sorgen. (...) Wenigstens meine Schwiegereltern waren in Sicherheit: Sie befanden sich, wie jedes Jahr um diese Zeit, zusammen mit Gerhart Hauptmann in Rapallo. Bei den Reichstagswahlen am 5. März 1933 hatte die NSDAP zusammen mit den Deutschnationalen, die ihr die Steigbügel hielten im törichten Glauben, sie könnten Hitler an der Leine führen –, die absolute Majorität errungen. Die Grundrechte der Weimarer Verfassung hatte Hindenburg schon eine Woche vor der Wahl durch Notverordnung aufgehoben. Das „Ermächtigungsgesetz“ gab Hitler alle Vollmachten zur Beseitigung der Demokratie und zur Errichtung seines Führerstaates. Wir waren vogelfrei, der Willkür der Straße ausgesetzt. Nacht für Nacht erwarteten wir selbst in unserem abgelegenen Zufluchtsort den Überfall der losgelassenen Horden, die brüllend durch die Straßen zogen... Für den 1. April hatten Goebbels und seine Trabanten die „Nacht der langen Messer“ und einen Boykott aller jüdischen Geschäfte verkündet. Ich zog es vor, den drohenden Ausschreitungen aus dem Wege zu gehen, und fuhr mit meiner Familie nach Rapallo. Da ich nicht sicher war, ob man mir beim Grenzübergang nicht Schwierigkeiten bereiten würde, hatte ich unseren Freund Kurt Heuser gebeten, uns zu begleiten, um meiner Frau beizustehen, falls ich nicht durchkäme. Kurt Heuser hatte sein Schlafwagenabteil in einem anderen Wagen. Als ich im Morgengrauen erwachte, bemerkte ich zu meinem Schrecken, daß wir gar nicht fuhren. Ich kleidete mich notdürftig an und stieg aus. Unser Wagen stand mutterseelenallein außerhalb des Bahnhofs von Basel – glücklicherweise bereits auf Schweizer Seite – auf einem Nebengleis. Von unserem Zug und unserem Freund Kurt Heuser keine Spur. Es stellte sich heraus, daß die deutsche Reichsbahn so viele Schlafwagen für die vor dem Boykott fliehenden Juden eingestellt hatte, daß der Zug für die Steigung zum Gotthardpaß zu schwer war, und so hatte die Schweizer Bundesbahn unseren Wagen einfach abgehängt.

Aus den Erinnerungen von Gottfried Berman Fischer, der 1925 in den S. Fischer-Verlag eingetreten war. Nach der Machtergreifung emigrierte er mit dem in Deutschland verfemten Teil des Verlages nach Wien, von wo er sich 1938 mit knapper Not vor der SS retten konnte. Ausgewählt von

Michael Trabitzsch