Glasnost und Perestroika hinter der Großen Mauer

Auch China beginnt mit seiner stalinistischen Vergangenheit abzurechnen / Gespräch mit Su Shaozhi, einem der radikalsten Reformer in der chinesischen KP  ■ I N T E R V I E W

Chinesische Parteitheoretiker rechnen bei ihrer Suche nach einer neuen ideologischen Grundlage zunehmend deutlich mit einem Sozialismus stalinistischer Prägung ab. Die stalinistische Version des Sozialismus, wie sie in der in den dreißiger Jahren von Stalin verfaßten „Geschichte der KPdSU (b)„erschienen sei, habe auch die chinesischen Kommunisten jahrzehntelang beeinflußt. Unter heutigen Gesichtspunkten enthalte das Buch „jedoch viele Irrtümer“, hieß es kürzlich in der Zeitung 'China Daily‘.

Professor Su Shaozhi (65) ist Mitglied der chinesischen Akademie der Sozialwissenschaften und stand bis zum letzten Frühjahr dem „Institut für Marxismus-Leninismus und Mao Zedong-Idee“ als Direktor vor. Wegen seiner freimütigen Thesen zur Reform der politischen Struktur in China wurde er aber degradiert und konnte nur auf Intervention vom damaligen Premier und jetzigen ZK-Generalsekretär Zhao Ziyang seine Parteimitgliedschaft behalten.

taz: In China wird dieser Tage erneut viel über politische Reform diskutiert, wann begannen diese Diskussionen eigentlich?

Su Shaozhi: Viel früher, als man im Westen denkt. 1978 hatten wir eine große theoretische Diskussion mit vielen aufgeschlossenen Leuten - Sie würden es wohl Reformer nennen. Das Ergebnis war die These, die Wahrheit in den Tatsachen zu suchen und die Gedanken zu emanzipieren. Ich sagte damals schon, daß der Sozialismus in China noch nicht einmal sein Anfangsstadium erreicht hat. Da bekam ich natürlich Ärger mit einigen Konservativen. 1983 kam der Rückschlag der „Kampagne gegen geistige Verschmutzung“, in deren Verlauf einige Leute glaubten, ich wäre auch geistig verschmutzt. 1986 begann Deng Xiaoping dann darüber zu reden, daß die wirtschaftliche Reform nur Erfolg haben könne, wenn wir auch die Struktur des politischen Systems reformieren. Das Ergebnis war eine wirklich sehr offene Diskussion im letzten Jahr.

Sie haben dann aber etwas zuviel diskutiert, denn wenige Monate danach bekamen Sie Probleme mit den Konservativen.

Ja, meine These war, daß die politische und wirtschaftliche Reform nicht vorangehen kann, solange wir noch so viele despotische und feudalistische Überbleibsel in der Partei konservieren. Ferner müssen wir die Privilegien von hohen Kadern und ihren Kindern abbauen, sagte ich. Die haben zuviel Geld und Macht. Ich wollte mehr Demokratie und Freiheit in China. Ferner plädiere ich für Pressefreiheit und Bürgerrechte.

Was heißt Demokratie in China? Schließlich besteht die KP auf die in der Verfassung verankerten „Vier Prinzipien“. (Bestehen auf der Führung durch die Partei, der Diktatur des Proletariats, dem sozialistischen Weg sowie dem Marxismus -Leninismus und der Mao-Zedong-Idee - d. Red.)

Das ist das Problem, darüber wollten wir ja 1986 reden. Doch die Konservativen ließen uns nicht. Grundsätzlich sollten wir die Vier Prinzipien nicht negieren, denn sie stehen nun mal in der Verfassung, aber diskutieren können wir, was damit gemeint ist. Früher dachten wir, die Partei ist allmächtig, weil die Regularien der Partei vor der Befreiung entworfen wurden. Also quasi als Untergrundbewegung. Aber die strenge Befehlsstruktur, die im Krieg und Widerstand angebracht ist, zeigte sich als untauglich für das heutige China. Wir brauchen mehr Demokratie in der Partei, Trennung der Aufgaben von Partei und Regierung. Die KPCh soll eine Partei mit modernen Ideen werden.

Heißt das ein Mehrparteiensystem?

Theoretisch gesprochen sollten wir einen Pluralismus der Interessen in unserer Gesellschaft anerkennen. Früher haben wir analog zu Stalins Klassenideen angenommen, daß im Sozialismus nur noch Arbeiter, Bauern und Intellektuelle existieren. Doch auch im Sozialismus existieren viele unterschiedliche politische Interessen in der Gesellschaft. Nach meiner Ansicht kann man theoretisch über ein Mehrparteiensystem im Sozialismus diskutieren. Aber es ist zum jetzigen Zeitpunkt unrealistisch, das zu fordern. Dazu hat die KP mit ihren 40 Millionen Mitgliedern noch zuviel Macht.

Kann der Marxismus überhaupt noch die Probleme des heutigen China lösen?

Der Marxismus ist eine Gesellschaftswissenschaft, und ich plädiere für seine kreative Neuinterpretation. Der Sozialismus, den gerade meine Generation in China kennengelernt hat, war geprägt vom Stalinismus. Davon müssen wir uns befreien.

Wie unterscheiden sich chinesische Reformansätze von den osteuropäischen?

In China hat der Reformprozeß viel früher eingesetzt. Im Westen sagt man gemeinhin, daß die UdSSR zuerst eine politische Reform hatte und dann die ökonomische folgen sollte. In China soll es demnach gerade umgekehrt gewesen sein. Das stimmt nicht. Denn wir hatten schon vor zehn Jahren in der Partei beschlossen, alle Dogmen zu beseitigen. Damals schrieben wir auch die Parteisatzung so um, daß keine Konzentration von Macht und kein Personenkult mehr möglich ist. Ferner entschieden wir, daß der Volkskongreß das höchste Entscheidungsgremium in unserem Land sein soll. Doch ehrlich gesagt haben wir noch kein großes Selbstvertrauen in die politische Reform.

Aber das ist doch nach wie vor das gleiche Befehlsmuster wie zuvor. Von oben wird jetzt eben Reform befohlen, weil das Land wirtschaftlich ruiniert ist. Mit Emanzipation von Gedanken hat das nicht viel zu tun.

Wie Sie wissen, vollzogen sich alle sozialistischen Revolutionen in sehr unterentwickelten Staaten. Um aber die Akkumulation von Kapital vorzunehmen, die wir für unsere Entwicklung benötigten, konnten wir nicht wie etwa England andere Länder besetzen und ausbeuten. Wir hatten nur die Arbeitskraft unserer Bauern und Arbeiter. So entstand das Befehlssystem, das sich jetzt als uneffizient und reformbedürftig erwies. Das ist in der Tat das Hauptproblem der sozialistischen Länder, die ihr System reformieren wollen. Auch die Reform wird von oben verordnet.

Wir China-Watcher spekulieren ja immer gern, wie es in der KPCh zugeht. Einige KP-Mitglieder leugnen Machtkämpfe in der KP schlichtweg. Sie selbst sprechen aber sehr wohl von Reformern und ihren Gegnern. Wie stark sind denn die Konservativen noch?

Das ist ein Problem. Besonders Spitzenkader leugnen grundsätzlich, daß es Auseinandersetzungen in der KP gibt. In der Wirtschaft stimmt das zum Teil. Man kann nicht sagen, daß jemand von der heutigen Führung gegen Reformen ist. Es geht nur um das „Wie“ und das „Wie weit“ und das Tempo. Die schlechte Erfahrung aus der Kulturrevolution lehrte uns, daß wir Reform brauchen. Das Fraktionskampf-Modell, das im Westen von Sinologen gern benutzt wird, ist nicht so korrekt. Die meisten führenden Politiker wollen nach wie vor an einem orthodoxen Marxismus festhalten.

Chinas starker Mann Deng Xiaoping ist also ein orthodoxer Marxist.

Seine Marxismus-Vorstellung müßte sich weiterentwickeln. Er geht nicht über die Vier Prinzipien hinaus.

Wie weit gehen die Vorstellungen von politischer Reform bei Hu Yaobang und Zhao Ziyang?

In einem sozialistischen Land ist es sehr schwer, Partei und Regierung zu trennen. In den Betrieben und an der Basis geht das einfacher als in der Führungsspitze. Zum Beispiel gibt es in der Partei eine Gruppe für Wirtschafts- und Finanzreform, der Zhao Ziyang vorsteht. Er trifft dort als KP-Vorsitzender also auch ökonomische Regierungsentscheidungen. Das ist eigentlich mit den Gesetzen auch nicht zu vereinbaren. Ferner geht es bei Deng um Dezentralisierung von politischer und wirtschaftlicher Macht sowie die Verkleinerung des Regierungsapparats. Ferner um mehr Effizienz in der Verwaltung.

Viele kleine Kader versuchen die Verhältnisse überall zu konservieren, wie man selbst in der 'Volkszeitung‘ lesen kann, um weiterhin ungestört in die eigenen Taschen wirtschaften zu können.

Ja, aber daß Sie das lesen können ist schon ein großer Erfolg. Was in der Sowjetunion „Glasnost“ heißt, gibt es in China auch und wird „Transparenz“ genannt. Wir haben eben noch keine freie Presse. Deshalb plädiere ich für Bürgerrechte und eine freie Presse in China. Das ist der wichtigste Schritt auf dem Weg zur Demokratisierung. Das wird aber noch Jahrzehnte dauern.

China wird von Inflation geschüttelt, die Kriminalitätsrate steigt an. Können solche negativen Auswirkungen die Reform in Gefahr bringen?

Wir haben noch die Überbleibsel einer feudalistischen und despotischen Vergangenheit zu bewältigen. Manchmal geht es zwei Schritte vor und einen zurück, einige Male aber auch zwei vor, zwei zurück. Doch wenn sozialistische Gesellschaften die Reform wagen, müssen sie einige Phasen durchschreiten. Die erste ist Inflation, die zweite ist eine große Differenzierung von Einkommen, dann eine große Arbeitslosigkeit sowie eine Anbetung von Geld. All das können wir gerade in China beobachten und das sieht man auch in anderen sozialistischen Staaten.

Interview: Jürgen Kremb