Weddinger Kessel - 27.9.

Rund 60 Personen werden festgenommen  ■ Z W E I T E D O K U M E N T A T I O N

(...) Ganz offenbar gab es am 27. September 1988 gegen 16 Uhr im Wedding in der Boettgerstraße zunächst einen ersten Kessel. Die Eingekesselten durften in Dreier-Gruppen raus, wenn sie sich fotografieren bzw. filmen ließen. Die Leute verlassen diese Einschließung in Dreier-Gruppen und warten auf der anderen Straßenseite auf die Freilassung der anderen. Da kommen auf der Hochstraße aus Richtung Süden weitere Polizeifahrzeuge. Die gerade Freigelassenen werden erneut eingekesselt und in den ersten Kessel zurückgedrängt. Etwa um 16.15 Uhr beginnt das Verbringen der Eingeschlossenen in Polizeifahrzeuge, die in die Polizeikaserne in der Kruppstraße fahren, die Festnahmen erfolgen durch Polizeibeamte aus NRW und aus Berlin. In der Regel wird den Festgenommenen als Grund für die Festnahme „ASOG“ angegeben. Vor dem Abtransport werden sie zum ersten Mal durchsucht. Der Abtransport dauert sehr lange. Die meisten erreichen die Kruppstraße erst nach 18 Uhr. (...)

Angekommen in der Kruppstraße wird eine zweite Durchsuchung vorgenommen. Die meisten müssen stundenlang in den Polizeifahrzeugen im Hof der Kruppstraße auf ihre Verbringung in die Zelle warten. (...) Bei der zweiten Durchsuchung vor der Verbringung in die Zelle wird den Leuten alles abgenommen, insbesondere Schreibzeug, Rauchwaren, Schlüssel, Schals usw. Viele kommen zunächst in eine Sammelzelle, die für höchstens zehn Personen ausgelegt ist, in der aber bis zu 60 Personen, wenn auch nur kurz, untergebracht sind. (...)

Dann kommen die Leute in eine Acht-Mann-Zelle, in der über Stunden etwa 30 Personen untergebracht werden. (...) Zirka ab 21.30 Uhr beginnen die Vorführungen vor den Richter. Zunächst ist nur ein Richter am Amtsgericht, Herr Bindokat, anwesend und führt die Anhörungen durch. Gegen 22 Uhr erscheint ein weiterer Richter, Herr Lenz. Später sind es vier Richter. So kommt u.a. noch der Richter Fischer dazu. Gegen 22 Uhr findet die richterliche Vorführung in Gegenwart von RA Ströbele bei Richter Bindokat statt. Ein Polizeioffizier trägt die Gründe für den Antrag auf Fortdauer der Freiheitsentziehung vor. Diese sind u.a., daß aus einer Gruppe heraus Steine gegen die Schaufensterscheiben einer Bankfiliale geworfen worden seien und daß in den nächsten Tagen weitere Aktionen und Demonstrationen angesagt seien. Vor allem werden zahlreiche Flugblätter vorgelegt, aus denen sich die Planung für einen unfriedlichen Verlauf der Aktion ergeben soll. Anhaltspunkte für die Zuordnung der Flugblätter zu den Vorgeführten werden nicht genannt. Auch sonst gibt es keine konkreten Hinweise, daß gerade der Vorgeführte sich an unfriedlichen Aktionen beteiligen wolle. (...) Der Richter erläßt schließlich den beantragten Beschluß über die Fortdauer der Freiheitsentziehung bis zum nächsten Tag 24 Uhr. Er erklärt, solange der Vorgeführte keine Angaben mache und nicht versuche, die Vorhaltungen der Polizei zu entkräften, bleibe ihm keine andere Entscheidung.

Danach spricht der Vorgeführte - unterstützt von dem Rechtsanwalt - die Umstände der Haft und die Haftverhältnisse an. Er moniert insbesondere, daß das Schreibzeug weggenommen wurde und nichts zu essen und nichts zu trinken gegeben wurde. Auch bestünde keine Schlafmöglichkeit, die Massenunterbringung in einer kleinen Zelle sei nicht zumutbar. (...)

Nach der richterlichen Vorführung werden die Festgenommenen erneut durchsucht. Trotz des Hinweises auf die Versprechungen des Richters und des Polizeioffiziers werden alle Forderungen nach Essen, Trinken, Rauchen und Schreibzeug ignoriert. Die Festgenommenen sind wieder in Acht-Mann-Zellen untergebracht, und zwar zu 25 bis 30 Leuten. Auf den Holzbänken ist nur für wenige Personen Platz. Sie müssen sich auf den nackten Steinfußboden setzen. Jacken und Pullover werden ihnen abgenommen. Als es ihnen kalt wird und sie nach Decken verlangen, heißt es, es seien nicht genug Decken da. Für 25 Personen werden zwei Decken ausgegeben. (...)

Zirka 1.30 Uhr werden zahlreiche der Festgenommenen zum Augustaplatz verlegt. Sie bekommen Eisenketten um die Handgelenke und werden so gefesselt in Gefangenentransportern ohne Jacken und Decken durch Berlin transportiert. Viele sind nur mit T-Shirts bekleidet. Trotz gegenteiligen Verlangens lassen die Beamten in dem Polizeifahrzeug die Fenster offen und die Ventilatoren laufen. Gegen 2 Uhr kommen sie am Augustaplatz an. Dort findet eine erneute Durchsuchung statt (die vierte seit der Festnahme). Diesmal werden ihnen auch Schnürsenkel, Gürtel usw. abgenommen. Forderungen nach Essen werden abgelehnt. Einigen ist schon schlecht vor Hunger. Sie erhalten hier Papierdecken. Wieder sind in viel zu kleinen Zellen zu viele Personen untergebracht. (...) Die Leute schlafen auf dem Tisch, auf der Bank und auf dem Fußboden. Gegen 9 Uhr gibt es zum ersten Mal etwas zum Essen: Brot (Verfallsdatum 23.9.), ranzige Margarine und Marmelade sowie Tee. (...)

Gegen 11 Uhr werden alle in die Kruppstraße zurückgefahren. Hier erfolgt die fünfte Durchsuchung. Wieder werden in einer Acht-Mann-Zelle 26 bis 28 Personen untergebracht. Diesmal ist die Zelle überheizt und die Luft unerträglich. Als die Gefangenen verlangen, das Fenster zu öffnen, wird dies von der Polizei ganz zugemacht. Erst daraufhin zerstören Gefangene die Mechanik des Fensterverschlusses. Nun werden die Gefangenen einzeln aus der Zelle geholt und müssen sich im Gang vollständig ausziehen. Die Beamten wollen auch in den Hintern sehen. Sie werden nacheinander in eine andere Sammelzelle verlegt. Nach etwa 15 Minuten kommen sie in die demolierte Zelle zurück, diese ist wohl inzwischen fotografiert worden. Der Fenstermechanismus ist repariert, und das Fenster ist nunmehr hermetisch zu. Die Luft in der Zelle wird schnell unerträglich dick und heiß. Auf heftiges Klopfen reagieren die Polizeibeamten erst nach einer halben Stunde. Einigen Gefangenen ist inzwischen schlecht geworden. (...)

Entlassungen der Gefangenen werden ab 22 Uhr vorgenommen. Einzelne läßt auch der Richter laufen. Aber zahlreiche werden auch festgehalten, ohne je dem Richter vorgeführt worden zu sein. (...)

Udo B. wird um 18.10 Uhr am 28.9. entlassen, obgleich auf die Beschwerde des Rechtsanwaltes hin die Zivilkammer des Landgerichtes bereits mittags gegen 14 Uhr den Freiheitsentziehungsbeschluß des Amtsgerichts aufgehoben und die sofortige Entlassung angeordnet hatte. Diese Entscheidung war der Polizei telefonisch mitgeteilt worden. Eine Entlassung wurde gleichwohl verweigert, da erst der schriftliche Beschluß bei der Polizei vorliegen sollte. Gegen den Leitenden Polizeibeamten, einen Herrn Spiller, wurde inzwischen Strafanzeige wegen Freiheitsberaubung erstattet. Er war von der Geschäftsstelle des Landgerichts gegen 14.30 Uhr über die Entscheidung informiert worden und hatte sich gleichwohl geweigert, die Entlassung anzuordnen. (...)