Jugendliche und andere Sonderlinge

■ Osteuropa auf der Internationalen Filmwoche in Mannheim

Mannheim 1988. Das älteste Filmfestival der BRD (ohne Berlin) hat sich im 37. Jahr seines Bestehens auf Osteuropa konzentriert. Zwar gab es eine eigene Reihe mit Filmen aus der Türkei, aber auch das Sonderprogramm mit Filmen europäischer Regisseurinnen'das diesmal anstelle einer Retrospektive lief, setzte osteuropäische Akzente.

Ein Höhepunkt war der am letzten Tag gezeigte Film Im Wirbel (Krugorovot, UdSSR 1987) der Georgierin Lana Gogoberidze: Das Leben der alternden Schauspielerin Manana ist voller böser Überraschungen und Enttäuschungen. Ihr Vorsprechtermin für einen Film gerät zur Farce. Obwohl sie selbst kaum Geld hat, wird sie bestohlen. Sie lebt im ständigen Konflikt mit ihrer Schwester und der Tochter, mit denen sie eine Wohnung teilt. Dennoch versteht sie es, sich über alle Widrigkeiten mit Verve und imposanten Gesten hinwegzusetzen.

Wie Im Käfig (W.Klatce, Polen 1987, Regie: Barbara Sass) dagegen lebt der Bankangestellte Wladislaw in Warschau. Seinen tristen Alltag in der Zweigstelle einer Großbank kompensiert er damit, daß er kranke Vögel pflegt und zähmt. Sein kleines Zimmer verwandelt sich in eine Voliere, in der ein Käuzchen, eine Krähe und andere Vögel frei herumfliegen. Der Sonderling tritt ins Rampenlicht, als in seiner Bank ein Feuer ausbricht und er als einziger die Nerven behält. Das Fernsehen feiert ihn als Helden, und als sein Hobby zur Sprache kommt, wird ihm ein Spot in einer Kindersendung angeboten. Aber sein Auftritt ist katastrophal und wird erst gar nicht gesendet. Dennoch steigert er sich in die Wahnvorstellung, er habe eine große Fernsehkarriere vor sich. Am Ende findet er sich auf einem Baum im Garten einer Psychiatrie wieder, im Glauben, er selbst sei jetzt ein Vogel.

Unsichtbare Käfige bestimmen auch das leben des 23jährigen Alexej in Die Beichte - Chronik einer Entfremdung (UdSSR 1988, G.Gawrilow). Zwei Jahre lang wird das Leben eines Drogenabhängigen in einer sowjetischen Kleinstadt beobachtet. Die heroinartige Substanz, die Alexej selbst herstellt und sich und seiner Freundin in wachsenden Dosen spritzt, ist unter Aussteigern in der Sowjetunion weit verbreitet. Selbst als er aufhören will, findet er bei den Behörden kein Verständnis. Er wird behandelt wie ein Krimineller und kommt in die Psychiatrie. Da er nach seiner Entlassung keinen Job findet und nicht sozial integriert ist, kommt es erneut zur Krise. Zum zweiten Mal in der Psychiatriem, verweigert er das Essen und springt schließlich aus dem Fenster.

Auch Wie wir leben (UdSSR 1988) wirft einen ratlosen Blick auf die erst in jüngster Zeit thematisierten Strukturprobleme der Sowjetgesellschaft. Eine Volksschullehrerin beklagt sich über die Respektlosigkeit der Schüler vor patriotischen Werten. In privaten Jugendclubs feiern Heavy-Metal-Bands fröhliche Urständ. Zwei Vertreter einer faschistischen Partei mit Hakenkreuzbinde am Arm sehen dies als Anzeichen eines gesellschaftlichen Verfalls und begründen cool und locker ihr „Programm“ einer künftigen Rassenzucht und -vernichtungspolitik, gegen das die Politik der deutschen Nazis geradezu stümperhaft erscheint. Selbst unkritische Anpasser können ein Gefühl des Unbehagens nicht verbergen. Ähnlich, wie in Ist es leicht, jung zu sein? des Balten Juri Perdnieks gestehen auch hier angesichts der Probleme Jugendlicher die Erwachsenen ihr Scheitern ein.

Im Konsumwunderland Ungarn ist man für die Entwicklung jugendlicher Subkulturen etwas offener. Hier hat man sich auch von staatlicher Seite mit dem Problem „Punks“ auseinandergesetzt. Wer oder was ein „Punk“ ist, definiert das Organ der Lehrergewerkschaft. Nur: In Ungarn gibt es keine Punks. Behauptet jedenfalls der Regisseur des Films Schön und groß, der Kunststudent Miklos Acs. Er hat das Zusammenleben eines befreundeten Paares in einem Apartment auf dem Dach eines Hochhauses mit der S8-Kamera verfolgt. Waschen, Kochen, Scheißen, Vögeln - tagebuchartig wird das Leben in einer Nische der Massengesellschaft aus Betonklötzen protokolliert. Eigentlich sollte es ein Film über den Wassermangel in Budapest werden. Herausgekommen ist eine eigenwillige und witzige Filmcollage im Stil des US -Undergrounds der Sechziger Jahre.

Zum Abschluß noch ein skurril-witziger Beitrag aus Jugoslawien: Der Fall Harms (Slucaj Harms, Regie: Sl.Pesic) beschreibt das Leben des sowjetischen Schriftstellers Danil Iwanowitsch Yuvachyev, bei uns unter dem Künstlernamen Danil Charms bekannt. Charms schrieb surreale Kurzgeschichten, die „unmögliche Fälle“ zur Zeit Stalins schilderten. Nun wird er selbst ein „Fall“. Ein Engel landet in seiner Wohnung auf der Suche nach einem verlorenen Balken. Am nächsten Tag wird der Balken von zwei Zimmerleuten angeliefert. Über die Verwendung des Balkens können sowohl Charms wie auch der Engel nur spekulieren. Als er aus dem Fenster fliegt und im Pflaster steckenbleibt, bekommt Charms eine Anzeige wegen Verherrlichung religiöser Sybole. Zum schlechten Schluß wird Charms von einem Exekutionskommando abgeholt und an eben jenem Pfosten hingerichtet. Der Engel überwacht die Hinrichtung und wendet sich neuen, himmlischen Aufgaben zu ...

Jo-Hannes Bauer