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NEKRO-TELEPHONITIS

 ■  „Jesus called“

Wie wir alle wissen, wird am Jüngsten Tag unter anderem dieses geschehen: Wenn der Ruf Gottes erschallt, werden wir Toten - mit welch gemischten Gefühlen auch immer - ensemble erwachen. Und er wird sich anhören, was er ohnehin schon weiß, wir ihm aber rechenschaftshalber noch zu berichten haben.

Freilich: Bis dahin ist es noch eine lange Weile. Einstweilen harren wir nicht dieses kollektiven Weckrufes, sondern der persönlichen Abberufung. Und die kleidet sich naturgemäß in die persönlichen Formen.

Das zugleich fromme und hightechnisierte US Amerika zum Beispiel hat zu dieser Ein- und Abberufung ganz andere Assoziationen, als sie sich in den technisch retardierten und aufklärerisch avancierten Randzonen Mitteleuropas einstellen mögen. Und hier gebührt die Palme ohne Zweifel einem Grabstein im tiefsten Süden des Bundesstaates Georgia (ungeachtet der Tatsache, daß der Friedhofsfreak meist nur zufällig auf ihn stößt).

Dieser Grabstein bietet sich nämlich in der schnörkellosen Form eines Telefonhörers dem andächtigen Beschauer dar: der Griff in dem wunderschönsten Rosa, die Muscheln im unschuldigsten Superwaschweiß. Die Aufschrift aber kann man ohne weiteren Kommentar für sich sprechen lassen, denn sie teilt uns in edelster Einfalt und schlichtester Größe allein diese frohe Botschaft mit: „Jesus called“ - „Jesus hat angerufen“.

Man weiß nicht, was man mehr daran bewundern soll: die ästhetisch-metaphysische Sensibilität oder den enormen Sinn für eine Tele-Kommunikation, die diesen Namen wahrhaft verdient; die kühne Erweiterung diesseitigster Empirie auf die transzendentesten Perspektiven oder die subtile Synthese des technischen mit dem religiösen Apparat. Und wenn sich auch einige amerikanische Bundesstaaten noch der Evolutionslehre sperren - sozusagen nach hinten zur affenmäßigen Vergangenheit hin -, so ist zumindest dieses religiöse Monument auf der Höhe der Entwicklung und nach vorne und oben offen.

Genug: Jesus hat angerufen, Jesus hat gewählt. Jesus hat seinen Moribundus erwählt. Und der hat abgehoben. Es bleibt höchstens noch die Frage, welcher Konzern, AT&T oder Southern Bell, die Verbindung für dieses Ferngespräch hergestellt hat und die Rechnung kassieren wird. Aber was besagt das schon gegenüber einem derart heißen Draht in die Ewigkeit?

Ludger Lütkehaus

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