Fast so schön wie daheim

■ The Forest von Robert Wilson und David Byrne in der Freien Volksbühne Berlin

Das Stück langweilt mich, weil ich so viel denken muß. Wenn ich nichts denken muß, fühle ich mich wohl. Ich muß so viel denken und dann denke ich nichts. Ich fühle mich wohl, weil ich mich langweile. Immer wenn ich mich wohlfühle, muß ich viel denken. Das Stück fühlt sich wohl, wenn ich nichts denke.

Ich sitze in der Freien Volksbühne und neben mir Hanz und rechts jemand, den ich nicht kenne, und man hat mich gewarnt. Meine Beine sind zu lang, und meine Knie drücken durch das Polster des Sitzes vor mir. Das Publikum ist sehr schön und originell gepflegt und es wird dreieinhalb Stunden dauern. Die Regie ist von Robert Wilson und die Musik von David Byrne und der Text von Heiner Müller und Darryl Pinckney und die Idee von Gilgamesch und das Geld von denen, die nicht da sind. Ein Glas Sekt kostet fünf Mark und die Eröffnungsmodenschau der E 88 zwei Millionen und The Forest vier Millionen und Herr Hassemer legt der alten Frau bei Aldi ein Glas mit Zwiebelwurst wieder in den Korb zurück, das sie gerade nach längerem Überlegen wieder herausgenommen hatte. Ich habe nichts bezahlt und das sehr schöne Programmbuch ist für sechs Mark zu haben.

Was ich toll finde, wie Wilson das Epos in die Gegenwart des 19.Jahrhunderts transponiert hat. - Mich hat dieses Bild mit den Arbeitern in den Stahlgestängen wahnsinnig an Metropolis erinnert. - An Metropolis? - Ich dachte eher an „Jailhouse Rock“. (Lachen) - Aber hast du bemerkt, daß jeder Akt eine andere Farbe zum Thema hat? Es geht um ... - Und jeweils ein Tier, einmal ein Krokodil, einen Löwen ... Hallo, wie geht's?

Ein alter Mann, der aussieht wie Stefan George, sitzt auf einem Stein inmitten eines ausgetrockneten Flusses, und ein verendetes Krokodil bewegt manchmal langsam seine Beine. Ein Kind spielt mit Bauklötzen, während im Hintergrund Personen über die Bühne laufen und gehen und vorbeistehen. Die linke Hand des Mannes zittert in der Luft, und jedesmal, wenn er das Wort „Lilien“ ausspricht, muß er mit der linken die rechte festhalten, damit sie sich nicht nach oben reißt. Seltsam. „Hör mir zu“, sagt ein Dämon, und eine Krähe wiederholt und krächzt Fetzen davon, und ich bemühe mich, die vielen Gestalten im Auge zu behalten, die mit den vielen Krähen in den Händen über die Bühne gleiten, und mache mir Vorwürfe, warum ich das Programmheft nicht vorher gelesen habe, und weiß nun, warum das „Gilgamesch Epos“ - bei Reclam erschienen - seit einer Woche in Berlin vergriffen ist.

Wilson sieht den Wald vor lauter Bäumen nicht (Verlegenes Lächeln zum Sektglas hinunter. Nur die Frau neben dem Sprecher lacht.) - Der Kopf geht zu Fuß. Es ist deshalb kein Wunder, daß man Wurzeln hat. Kennst du das? Von Robert Walser (ignoriert) - Ich mußte immer an den Wald bei Macbeth denken. - Da sieht man, wie verschieden wir sind, mir fiel nur Weihnachten ein. (durchschaubar untertrieben zur Seite lachend) - Nein, ich denke ökologisch meint Wilson das nicht.

Der Mann hinter mir lacht oft laut auf. Wenn sich die hohe, schmale Tür zum Chefbürosaal öffnet, ertönt ein ziehendes elektrisches Summen zu den schwebenden Streicherklängen. Die Mutter von Gilgamesch puhlt ab und zu in den Zähnen und verliest einen Text über die Liebe zu Walen und Schiffsschrauben und zum Bett und der Stellung des Papstes zu einer Dreierbeziehung und das Ersäufen von Katholiken in Kirchen. Die Beine der Hure hängen weiß, links und rechts hinter der Lehne des Thronbürosessels hervor, kippen nach oben und Gilgamesch sagt: „Ich bin groß. Ich bin klar. Ich bin voll. Ich bin dicht.“ Autistisch verzögertes Wiederholen und Sprachstolpern, und der Löwe brüllt, und das Gilgamesch -Rot verbindet sich mit dem Mutter-Violett, und während Gilgamesch auf der Orgel tanzt, erscheint eine Opernsängerin und versinkt im Boden, und der Rauch kommt von oben, und die Musik schwillt bis ins barocke Brandenburg.

Die Einflüsse von Fellini sind ja überdeutlich. Zigaretten gibt es, glaube ich, vorne im Automaten. - Es ist eher wie bei Dali. Dali bei Hitchcock - Kenne ich nicht. Nein? - Dieser Traum mit den Kartenspielern - Nein - Aha Da drüben, im schwarz-grün karierten Sakko, das ist David Byrne. - Er ist unheimlich symphatisch. - Haben sie die Anspielung mit dem Floß der Medusa im Hintergrund bemerkt? Ist das seine Frau neben ihm?

In einem sich drehenden Kessel, einer von oben herabängenden Welt-Waagschale sitzt ein alter, weißgepuderter Mann und giftet in Zeitlupe: „Na, ja ... ich stimme zu ... es ist nicht immer so ... ich kann nicht allein sein ... nicht eine Sekunde ... das ist keine Kleinigkeit ...“ In der Höhle, bei ihm, ein schwarzer Ritter und ein nackter Kaspar Hauser und ein riesiger Tod und eine Bisamratte und ein leuchtendes Rechteck in der Luft schwebend und das Tropfen von Wasser und der dumpfe Schlag der Gitterstäbe, die langsam die Höhle verschließen. Ich freue mich, weil die Krähe wieder auftaucht und auch eine Zwergin und ein alter Greis und die nackte Frau mit den schönen Brüsten und der Scharfrichter aus dem ersten Akt sich in einen Ritter verwandelt hat und auch die Amazonen gefallen mir. Mit der Zeit fühle ich mich immer wohler und das Denken läßt nach. Die Bilder kreuzen sich mit den Wörtern kreuzen sich mit der Musik und manchmal klingt etwas nach und vermischt sich mit den Bildern und dem Text und der Musik von früher ... kurz ... lang ... kurz ... lang ... lang.

Ich weiß nicht, wie ihr es empfindet, aber für mich ist es die spannendste Langeweile, die ich mir vorstellen kann.

-Ein Bild wie bei Caspar David Friedrich, diese Silhouette vor diesem irren weißen Hintergrund. - Ich bin mit dem Fahrrad da, es ist gar nicht so weit. - Trinken wir noch ein Glas? - Mich haben diese Gestalten an die spanische Inquisition erinnert. - Ja, wie bei Brecht und dann wie Ibsen, das Interieur.

Im Puppenhaus des 19.Jahrhunderts. Kurz vor 22.30 Uhr langweile ich mich wieder und fange an zu denken. Robert Wilson montiert Bilder in einem Bilderbuch ohne Seitenzahlen. Er zerschnipselt und klebt, falzt und kantet, blättert vor und zurück. Steckt Folien mit Texten zwischen die Seiten, reißt Seiten heraus. Manche Kombinationen sind besser als andere, aber das sagt nichts. Mein Knie tut weh. Man kann sie das nächste Mal anders zusammenstellen. Das Briefmarkenalbum meines Großvaters war nach Ländern geordnet. Und die Bilder auf den Briefmarken verbanden sich zu seltsam statischen Geschichten. Ge-Schichten ohne Handlung - Köpfe, die alle nach rechts sahen, Blumen und Verkehrszeichen, Tiere neben Zahlen. Ich sehe noch viele dieser Geschichten vor mir. Ich mag Robert Wilson und seine Mischung aus Wörtern und Gesten und Farben. Seine Theaterstücke sind wie Zimmer, die man bewohnt, nach einem Jahr fällt einem plötzlich ein bestimmter Schatten auf, den man nie gesehen hatte und den zu sehen auch ganz nutzlos ist. Es ist nur schön, daß man ihn endlich sieht.

Für mich geht es um den Kampf von menschlicher Kultur und freier Natur, auch um die Verdrängung des Todes. - Ich weiß nicht recht. - Ich denke, die Leute haben sich in der Urgesellschaft mit denselben Themen beschäftigt wie wir. Ja, viele unsere Werte ... - Weißt du, wo hier die Toiletten sind?

„Gilgamesch war König in Uruk, einer Stadt zwischen den Flüssen Euphrat und Tigris im alten Babylon. Enkidu war in der Steppe geboren, wo er mit den Tieren aufgewachsen ist. Sie nannten Gilgamesch Gott und Mann; Enkidu war Tier und Mann. Dies ist die Geschichte ihrer Freundschaft.“ Das Programmbuch für sechs Mark liegt immer noch auf meinen Knien. Robert Müller über Heiner Byrne über David Wilson. Die Geschichte von Gilgamesch und was er mit der industriellen Revolution zu tun hat und die Arbeitsweise von Bob, Heiner und David und wie sie sich gefunden haben und wann und warum. Ich werde es nicht lesen, oder vielleicht in ein paar Monaten. Wir klatschen. Nicht begeistert, eher bemüht, die übliche Länge des Premierenbeifalls auszufüllen. Wer klatscht schon zu Hause seinem Sessel zu, wenn er sich hinsetzt und sich wohlfühlt? Manchmal haben wir uns auch gelangweilt, so wie zu Hause.

Konrad Heidkamp