Tausend Kilometer Einsamkeit

■ Neuseeland auf dem Fahrrad entdecken

Bernd Müllender TAUSEND KILOMETER

EINSAMKEIT

Neuseeland auf dem Fahrrad entdecken

Ich bin der Wibbel“, stellt sich der Mann, gewinnend grinsend, uns sechs aus Deutschland vor. Gerade sind wir im neuseeländischen Christchurch gelandet, um das Land „am schönsten Ende der Welt“ (Reisebeschreibung) mit dem Fahrrad kennenzulernen. Eigentlich heiße er Ernst Bernhard Wipperfürth, ist 38, wie wir erfahren, Reise-Organisator und -Begleiter, Fahrrad-Fan, und, wie wir bald lernen sollten, noch einiges mehr. „Ich weiß“, sagt er, „ihr seid unsicher, was euch erwartet, habt alle den Prospekt gelesen, und doch hat jeder sicher tausend verschiedene Phantasien.“ Mindestens tausend. Und so manche Ängste: Hildegund (53), MTA aus Hannover, erzählt, sie habe seit 30Jahren höchstens mal auf einem Betriebsausflug ein Zweirad bestiegen, und dann seien das immer so klapprige Dinger gewesen, und sie sei immer nur gequält hinterhergestrampelt. „Warte mal ab, wie in einem Monat deine Waden aussehen werden“, macht „der Wibbel“ Mut. Hilde lacht zaghaft. Tausend, etwas mehr sogar, mißt auch die avisierte Strecke rund um die neuseeländische Südinsel in Kilometern.

Muskelkater und Wadenzwicken haben wir anfangs alle. Erste Hügelchen werden zu Steilklippen, auch mit zwölf Gängen, obwohl die Gewöhnungsetappen nie länger als 40 Kilometer sind. Die weite Weidelandschaft lenkt schnell von der Arbeit am Lenker ab. Höchstens mal eine Verschnaufpause zwischendurch, Schafe zählen und sie mit Schäfchenwolken zusammen fotografieren.

Am Lake Tekapo, im kargen McKenzie-Hochland der erste von vier Ruhetagen: Ein Bilderbuch-See, tief Türkis und wie selbstverständlich klar. Mit Ufern in sattem Braungrün, und ringsherum die schneebedeckten Gipfel der neuseeländischen Alpen bis hoch zum Mount Cook, mit 3.764 Metern Neuseelands größter. Tausend Mark würde ein Quadratmeter solchen Landes in Europas Ferienzentren kosten, Hotel an Hotel würde sich gen Himmel türmen. Im einsamen Land der Kiwis ist Tekapo die größte Siedlung im weiten Umkreis - mit ganzen zwei Motels, einer Tankstelle, mit ein paar Geschäften, einer „Dairy“ (den in Neuseeland noch weit verbreiteten Tante-Emma-Läden) und ein paar Wohnhäusern. Sonst nur Natur pur und wohltuend wenig Touristen.

Die Tage auf dem Rad vergehen wie im Flug. Wir radeln in einem weiten stillen Land, ringsum die weißen Gipfel, gelegentlich eine Farm oder machmal sogar ein Dörfchen, und nur eine schmale Straßenlinie, die sich irgendwo am Horizont verliert. Gotthard aus Essen, Biologe beim BUND, ist schon jetzt sicher: „Der Fahrtwind bläst mir jeden krummen Gedanken an Zuhause aus dem Kopf.“ Konditionszweifel der ersten Tage sind längst vergessen. Wenn nur der Wind gnädigerweise andersherum blasen könnte.

Die Tour ist gut durchorganisiert. Wir sechs radeln mal einzeln, mal in der Gruppe die vorgegebenen Tagestrecken, von jetzt auch manchmal 60 oder 80 Kilometer. Der Wibbel in seinem Bedford mit Caravan überholt irgendwann, erkundigt sich nach dem Befinden der Oberschenkel und der Laune und vereinbart mit uns den nächsten Treffpunkt für Kaffee oder Mittagessen. Wer keine Lust mehr hat, steigt bei ihm ein. Da können einem die vollgepackten Radlerkollegen unterwegs schon leid tun, die einen solchen Gepäck-, Regen- und Müßigkeitsservice nicht haben. Aber manchmal nimmt Chauffeur Wibbel auch trampende Radler mit. Platz genug ist ja in seinem Gespann mit der durchaus zutreffenden, aber immer etwas hochstaplerisch wirkenden Aufschrift „Pacific Cycle Tours Aachen“. Rollender Nudelsalat

Wie jeden Tag hat der Koch Wibbel das Mittagessen schon morgens im Motel vorbereitet, bevor er seine strampelnden Schützlinge verfolgt. „Da fährt unser Nudelsalat“, stöhnt Corinna hungrig, als er mal wieder vorbeituckert. Nur noch eine Stunde bis zum vollen Teller vor dem perfekten Postkarten-Panorama des Lake Pukaki.

Über den Haast-Paß ereichen wir Neuseelands Westküste - das heißt Regenwald, Farnbäume und Palmenbüsche, wucherndes Grün überall, dick vermooste Zäune, alles mit bunten Flechten überzogen. Der Preis für das üppige Wachstum aber ist der Regen. Hier fallen drei, mancherorts vier Meter im Jahr. In Milford Sound, dem Fjordland unten im Südwesten, sogar sechs, und manchmal 25 Zentimeter an einem einzigen Tag, soviel wie bei uns in einem halben Jahr. Doch wir haben riesiges Glück: fast immer scheint die Sonne. Dennoch: warum die Maoris Neuseeland „Aotearoa“ nennen, „das Land unter der großen weißen Wolke“, wird uns so manchesmal niederschlagartig bewußt.

Abends haben wir im Motel schon mal Familienanschluß, wo Gastgeber James erst fragt, wer denn „der Direktor der Gruppe“ sei, und als wir auf den spülenden Küchenchef Wibbel zeigen, will er unbedingt beim Abwasch zur Hand gehen. Hausmann Wibbel stellt immer wieder klar, niemand von uns brauche ihm zu helfen, die Verpflegung sei schließlich im Preis inclusive. Aber längst sind wir zu einer Art Wander-WG geworden, und machen mit beim Frühstück, beim Aufräumen und bei der Planung der nächsten Tage. Autofahrer

Was uns stört, ist der Name „Motel“. Besser würden die Quartiere doch Cycletel heißen, oder Pedel oder Radel. Überhaupt: die Autofahrer, „die Anderen“. Da rasen sie vorbei in ihren klotzigen Leihcampern „Nomad“ und „Adventure“, oder diese Busse mit dem völlig deplazierten Namen „Intercity“. Städte gibt es an der Westküste auf Hunderte von Kilometern nicht. Nur eine einzige Straße, keine Ampel, keine Kreuzung. Mit den wenigen autorisierten Urlaubern tauschen wird bedauernde Blicke: die armen Radfahrer, strampeln ohne jede Motorkraft ungeschützt gegen Wind und Wetter, naßgeschwitzt und naßgeregnet. Die armen Autofahrer, brausen in ihren Käfigen an allem vorbei, riechen nichts, hören wenig, sehen nur in Ausschnitten und im Zeitraffer, haken nur ab, wie alles vorbeifliegt. Waren die überhaupt in Neuseeland?

Wibbel erzählt eine schöne Geschichte von seiner ersten Tour. Da sei plötzlich ein Polizeiwagen mit Megaphon hinter seinen Radlern aufgetaucht. Sie sollten mal ordentlich in die Pedale treten, gab der Kiwi-Cop durch, er werde dann die Zwischenstände vermelden: „Tempo 38, 42, come on, 43...“ Nein, nicht daß die Polizei sie in eine Radarfalle locken wollte - an der Westküste hat auch die Polizei Langeweile und wenig Ordnung zu hüten: kaum Menschen, Verkehr, Verbrechen, keine Demos.

Aber es gibt hier unbekannte, andere Gefahren. Brigitte, Bibliotheksangestellte aus Minden, müht sich weiter erfolglos, ihre puterrote Hautfarbe endlich ins Tiefbraune zu verwandeln. Dabei hatte Landeskenner Wibbel immer wieder von der extremen ultravioletten Strahlung, verstärkt durch das antarktische Ozonloch, gewarnt. Und Corinna jammert abends: „Ich habe mindestens 200 Mückenstiche“. Biologe Gotthard verbessert mitfühlend: Erstens Fliegen, zweitens Bisse. Sandflies sind aggressive kleine Biester, die die Schwüle hier ebenso lieben wie flauschige Radlerhaut.

Als Pharmazeut Wipperfürth macht unser Radlchef im deutschen Sommer Urlaubsvertretungen in Apotheken, und den Winter verbringt er seit vier Jahren in Neuseeland, meist auf dem Rad. „Da habe ich mir gedacht, das könnte ja anderen auch Spaß machen.“ Hat sich mit seinen Zwei- und Vierrädern fünfstellig verschuldet, ein Aachener Reisebüro als Kompagnon gefunden und mit der aufwendigen Organisation losgelegt. Im vergangenen Winter liefen die ersten drei Touren, prinzipiell für Lenker-Laien. Kiwis

Als Fremdenführer weiß Wibbel viel zu erzählen über die Kiwis (die grünen, die zweibeinigen und die vierbeinigen), „aber“, sagt er, „ich will nicht schulmeisterlich dozieren und Vorträge halten“. Da müssen die Mitreisenden schon selbst zu ihm kommen und fragen. Das hatte gleich am ersten Tag begonnen, als einige heftig über die geographischen Verwirrungen der Südhalbkugel diskutierten: Jahreszeitentausch, die Sonne läuft andersherum und steht mittags im Norden, die verqueren Sternbilder und diese merkwürdige Datumsgrenze, die gerade überflogen war. Am anschaulichsten läßt sich all das an der drehbaren Riesenweltkugel im Museum von Christchurch nachvollziehen. Dahin führt Guide Wibbel die Neu-Neuseeländer gleich am ersten Tag.

Immer ist Zeit genug für die Attraktionen am Wegesrand: für den riesigen Gletscher mit dem hübschen Namen „Franz Josef“, der fast bis auf Meereshöhe hinabreicht; für die Pfannkuchenfelsen von Punakaiki; für Hokitika, das Zentrum für Schmuck aus grüner Jade, oder für die frühere Kohle- und Goldgräbermetropole Westport.

Fünfzig Kilometer am Tag, dazu noch alles flach, sind uns längst viel zu wenig. Andererseits locken die Vergnügungen am Etappenziel: Sonnenbaden an grundsätzlich menschenleeren Stränden, mal eine Wanderung ins Hinterland, mal Kanufahren, mal ein fauler Abend beim typischen Neuseeland-Wein aus Pappkartons (Kiwi-Spott: Chateau Cardboard), und, immer wieder: Golf spielen. Lehrer Wibbel hatte uns die Grundschläge gezeigt. Das Golf-Virus infiziert augenblicklich: Mit dem Drive Richtung Alpenpanorama, putten zur Brandung des Tasmanischen Meeres oder einmal mit einem Eisen Neun zum Doppelpar über den Highway lupfen (was nicht nur für uns zum Abenteuer wurde).

Immer häufiger ist Hilde beim Radeln ganz vorn, Cycle -Trainer Wibbel ruft ihr zu: „Willste noch, Hilde? Aber dann mußt du dich beeilen. Die Männer sind hinter dir her.“ Und die frotzeln derweil über den erstaunlichen Ausdauerzuwachs der Tour-Seniorin. Da habe ihr der Saison-Apotheker Wibbel wohl etwas Radler-Doping ins Abendessen getan.

Nach vier Wochen im Sattel liest sich der Prospekt neu. Was vorher so kraus klang - Radfahren als „Meditation“ und „die Schönheit der eigenen inneren Landschaft“ entdecken - hat jetzt nach tausend Kilometern Einsamkeit für jeden eine eigene Bedeutung gewonnen. Untereinander, stellen wir fest, hätten die meisten von uns, so verschieden wir alle sind, zu Hause sicher nichts miteinander anzufangen gewußt. Aber das gemeinsame Rollen verbindet, und die krummen Gedanken an Zuhause sind wirklich fortgeblasen.

Eines nimmt Doris aus München dahin mit: „Zuallererst wird mal das Auto verkauft.“ Unser Freund Wibbel lacht, sie solle mal nicht die fahrradfeindliche Asphaltrepublik Deutschland mit dem einsamen Radlerparadies Neuseeland verwechseln.